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Rußland und die „alten Brüder"

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FURCHE: Einige Sowjetrepubli­ken, wie beispielsweise die balti­schen, suchen Anerkennung bei den internationalen Organisationen. Wie steht der Kreml dazu?

ROLAND M. TIMERBAEV: Sta­lin hat im Rahmen der Anti-Hitler-Koalition mit Churchill und Roose-velt schon 1943/44 im Hinblick auf eine neue Ordnung der Welt alle damals 16 sowjetischen Teilrepu­bliken als Mitglieder der neu zu schaffenden UNO vorgeschlagen. Das hat der Westen nicht akzep­tiert. Weißrußland und die Ukraine sind die einzigen Republiken mit Stimmrecht in der UNO.

Eine spezielle Kommission, die schon seit Monaten daran arbeitet, hat einen neuen Unionsvertrag entworfen, der am 17. Dezember vom Kongreß der Volksdeputierten debattiert werden soll. Wir können nur diese Diskussion abwarten. Das wird ein langer Prozeß, weil der Unionsvertrag auch in den Parla­menten der Teilrepubliken erst diskutiert werden muß. Wie dieser Prozeß enden wird, weiß ich nicht.

Ich möchte aber darauf hinwei­sen, daß dieser Separatismus nicht nur bei uns in der Sowjetunion existiert. Separatistische Tenden­zen gibt es heute auch in Jugosla­wien oder in der Tschecho-Slowa-kei. Es handelt sich also nicht nur um ein Problem zwischen der UNO und der Sowjetunion, sondern um ein globales Problem. Soll die UNO zwei tschecho-slowakische, sechs jugoslawische, 15 sowjetische Re­publiken und etwa auch ein unab­hängiges Quebec anerkennen? Sie sehen, das ist ein gewaltiges Pro­blem für die Vereinten Nationen. Die UNO befindet sich jetzt schon, angesichts der Golfkrise, in einer schwierigen Lage; wenn nun noch diese separatistischen Republiken dazukommen, könnte eine apoka­lyptische Situation entstehen.

FURCHE: Was passiert, wenn der Westen Druck auf Gorba­tschow ausübt, den Republiken Freiheit zu geben?

TIMERBAEV: Das ist keine Ent­scheidung von Gorbatschow allein, sondern in erster Linie des Ober­sten Sowjet. Wenn die Republiken darauf insistieren, muß es eine Art Referendum geben, einen Prozeß, an dem alle Bewohner der entspre­chenden Republiken, also auch deren ethnische Minderheiten, teil­nehmen müssen. Gorbatschow ver­sucht, jedem eine Chance zu geben, nachzudenken. Es muß zu einer demokratischen, nicht totalitären oder gewaltsamen Entscheidung kommen.

FURCHE: Lettland und Estland haben Paßkontrollen eingeführt.

TIMERBAEV: Zwischen einigen Republiken gibt es nicht Paß-, son­dern Zollkontrollen. Vergangene Woche hat Weißrußland diese Maßnahme eingeführt. Das hat etwas mit der bei uns herrschen­den Lebensmittelknappheit zu tun. Die Republiken versuchen durch Zollkontrollen ihren Ausverkauf zu verhindern. Das ganze läuft auf einer emotionellen Basis ab, ohne durchdacht zu sein.

FURCHE: Alexander Solscheni-zyn schlägt die Bildung eines neu­en Großrußlands mit Rußland, Weißrußland, der Ukraine und einem Teil Kasachstans vor. Refor­mer wie Jelzin können offenbar dieser Idee einiges abgewinnen.

TIMERBAEV: Ich habe alle Werke Solschenizyns schon zu ei­ner Zeit gelesen, da sie bei uns noch verboten waren. Sein in der Sowjetunion in Millionenhöhe ver­breitetes neuestes Essay über die Bildung Großrußlands enthält sehr viele bedeutende Ideen. Im histori­schen Teil ist Solschenizyn sehr gut. Was seine Zukunftsvorschlä­ge betrifft, erfährt Solschenizyn im Volk mehr Kritik als Zustimmung. Ich bin nicht sicher ob Weißruß­land und die Ukraine oder ein Teil von Kasachstan wirklich bei ei­nem Großrußland bleiben wollen. Sie wollen ja im Gegenteil eine viel größere Autonomie. Solschenizyns Vorstellungen beruhen nicht auf konkreten Analysen. Solschenizyn will die russische Geschichte von vor hundert Jahren rekonstruie­ren. Ich glaube nicht, daß Jelzin offiziell so eine Konzeption unter­stützen kann.

FURCHE: COMECON und War­schauer Pakt haben sich überlebt. Wird es eine neue Zusammenarbeit der „alten Brüder" geben?

TIMERBAEV: Das ist die schwierigste Frage, die Sie mir bis jetzt gestellt haben. Noch existie­ren beide Institutionen, aber man plant, sie in ein, zwei, drei Jahren „to fade away" (langsam auslau­fen zu lassen). Das ist eine Über­einkunft aller Mitgliedsstaaten und muß evolutionär, nicht revolutio­när geschehen. In der UNO-Fami-lie gibt es die Praxis der regionalen Zusammenarbeit, wie zum Beispiel Osteuropa, Westeuropa oder die Gruppe der afrikanischen Länder. In diesem Rahmen könnten wir weiter unsere internationalen Pro­bleme verhandeln. Dies wäre gün­stig wegen des Proporzes in der UNO und wegen der gemeinsamen ökonomischen und ökologischen Probleme Osteuropas.

FURCHE: Wie soll eine künftige europäische Sicherheitspolitik aussehen?

TIMERBAEV: Die bisherige Si­cherheit Europas war auf den zwei Blöcken NATO und Warschauer Pakt aufgebaut. Die Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa ist dazu da, zu einer Ände­rung zu kommen. Die Zugehörig­keit Gesamtdeutschlands zur NATO ist ein Indikator für die bereits begonnenen Veränderungen. Der Warschauer Pakt läuft aus. Ich weiß nicht, ob die Zahl der Neutralen in Europa zunehmen wird. Ich denke, daß ein gesamteuropäisches Sicher­heitssystem entwickelt werden muß. Das war eines der wichtigsten Ergebnisse des Pariser-KSZE-Gipfels. Ich vergaß zu sagen, daß sich auch die NATO ändern muß und auslaufen wird, bei einer gleich­zeitigen Ersetzung der Blöcke durch ein gesamteuropäisches Sicher­heitssystem.

FURCHE: Hat sich der Marxis­mus-Leninismus in der neuen Sowjetunion überlebt?

TIMERBAEV: Ich bin felsenfest überzeugt, daß der Marxismus-Le­ninismus weiterbestehen wird als Teil unserer Glaubensüberzeugun­gen. Diese basieren auf Zusammen­fassungen der Erfahrungen ganzer Generationen. Und es liegt viel im Leninismus, viel im Marxismus, ebenso wie im Idealismus eines Im­manuel Kant, in den Lehren eines Fichte, Hegel oder eines Luther und Calvin. Da gibt es angehäufte Er­fahrungen. Und daher wird auch der Marxismus-Leninismus von un­serer Gesellschaft in Zukunft bei­behalten werden.

Mit Botschafter ROLAND M. TIMERBAEV, dem Ständigen Vertreter der UdSSR bei den Internationalen Organisationen in Wien, spra­chen GIBERT CISS und FRANZ G ANSRIGLER.

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