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Ein Linsengericht

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Diplomatie und Propaganda des W-eHteomimunisinus sind in den letzten Wochen fieberhaft bemüht, der Welt beizubringen, daß die „Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa“ unbedingt vor Ablauf des Monats Juli durch ein Gipfeltreffen der Staatsoberhäupter ihrem Abschluß zugeführt werden müsse. Der sowjetische Außenminister Gromybo reist von Hauptstadt zu Hauptstadt, um kaum verhüllten Druck auszuüben. In Born erklärte er öffentlich, daß Regierunigen, die jetzt noch zögerten, „eine große Verantwortung auf sich nähmen“, was nicht mehr und nicht weniger heißt, als daß er seine Gastgeber rügte, ja zu nötigen suchte.

Aber welche Verantwortung nehmen Politiker auf sich, die dem sowjetischen Terminfetisch ihre Huldigung darbringen und dem Juli-Gipfel zustimmen, gleichgültig, welche Verhandlunigsergebnisse bis dahin vorliegen werden? Wer solches Drängen konstatiert, muß schon deshalb mißtrauisch werden, weil die zu vermutenden Gründe nicht recht einleuchten. Welche magische Bedeutung mag dieses Datum für den Kreml haben? Will Breschnjew dem amerikanischen Präsidenten, wenn er ihn im September in Washington besucht, den Vollzug des russischen Hegemonie-Anspruchs über die Alte Welt präsentieren? Soll dadurch die Konferenz der kommunistischen Parteien im Frühherbst mit einem Triumphbogen für Breschnjew geschmückt werden? Oder gibt es Kreml-interne Planungen, die noch wichtiger sind und von denen die Welt nichts weiß?

Im Alltagsleben von Geschäft und Politik ist es üblich, daß Partner, die es besonders eilig haben, dafür entsprechend bezahlen müssen. Wer warten kann, sitzt am längeren Hebel. Bei der KSZE ist es seltsamerweise nicht so. Die Sowjets haben sich nur zu sehr bescheidenen Zugeständnissen bequemt, ihre Zusagen in Sachen der Menschenrechte, der zwischenstaatlichen Kontakte, der Freizügigkeit von Gedanken, Menschen und Waren halten sich bis zur Stunde in sehr engen Grenzen. Dennoch erwarten sie, daß die westlichen Demokratien nun auch noch ihren extravaganten Terminwünschen nachgeben. Wie ist das möglich?

Da gibt es die Resignation, von der viele Politiker erfüllt sind, nachdem sie in jahrzehntelangen, ermüdenden Verhandlungen erfahren mußten, daß man bei kommunistischen Regierungen weder durch Argumente noch durch Konzessionen etwas erreichen kann, wenn es um deren Existenzgrundlagen geht, sprich: um Mednungsfreiheit, um Bürgerrechte, um offene Grenzen. Der österreichische Bundeskanzler Kreisky scheint die KSZE unter diesem Blickwinkel zu betrachten. Er hat seinem sozialistischen Kollegen Helmut Schmidt geraten, sich nicht länger zu sperren, es werde ohnedies nichts herauszuholen sein, und schließlich sei es ja auch egal, weil sich weder hüben noch drüben etwas verändern werde. Der deutsche Kanzler hat sich von diesem Wurstigkeitsprinzip deutlich abgesetzt.

Wen wundert es da, daß Willy Brandt, der zur Zeit in der Welt herumreist, bei Tito unmißverständlich erklärte, der baldige KSZE-Gipfel sei höchst wünschenswert? Der offene Gegensatz zu Helmut Schmidt wird von der deutschen „öffentlichen Meinung“ ignoriert, weil die auf die SPD gerichteten Fernrohre auf andere Bruchstellen dieser Partei fixiert sind, nicht auf diese möglicherweise wichtigste und folgenschwerste. Ist es nicht höchst nötig, zu fragen, was Brandt zu dieser Kampfansage aus Belgrad veranlaßt hat? Ist der frühere Kanzler etwa durch ein dem Kreml gegebenes Wort gebunden?

Was die Gipfelkonferenz gutheißen soll, ist ein Konglomerat von Verhandlungsergebnissen, über das noch weithin der Schleier des Geheimnisses gebreitet wird. Niemand weiß genau, was an entscheidenden Stellen beschlossen werden soll. Mitten im „demokratischen Zeitalter“ ist eine Diplomatie der Geheimhaltung und der Verschleierung praktiziert worden, von der man nur mit Staunen vernehmen kann, zumal die Massenmedien, die sonst jeden Winkel ausleuchten, sich hier damit zufriedengeben. Fest steht offenbar, daß es sich weder um einen völkerrechtlich gültigen Vertrag noch um ein Friedensinstrument wie etwa die Wiener Schlußakte handeln soll.

Warum wohl? Damit die Parlamente nicht formell darüber beschließen müssen? Damit die Inhalte, soweit von konkreter Bedeutung, nicht tatsächlich eingeklagt werden können? Wie man hört, wird eine Präambel ohnehin alles relativieren, indem sie vorsieht, daß Rechte, die einzelne Staatsbürger oder Gruppen ableiten könnten, im Kontext der jeweiligen nationalen Rechtsordnung ausgelegt werden müssen.

Unter diesen Umständen fällt es schwer, den Optimismus der Befürworter — sei es im Vatikan, sei es sonstwo — zu teilen, die eine gewisse Lockerung der Unterdrückung in den kommunistischen Staaten erhoffen und das Festschreiben der sowjetischen Eroberungen im Baltikum, in Ostpolen und auf dem Balkan sowie das amerikanisch-europäische Siegel auf dem Status quo in Europa als angemessenen Preis für solche erhofften Erleichterungen betrachten.

Kreiskys Argument, Bonn könne seiner überhasteten Ostpolitik nun nicht eine Verzögerung des KSZE-Gipfels folgen lassen, ohne sich in den Augen der Sowjets als unzuverlässig zu erweisen, mag nicht ganz ohne Berechtigung sein. Aber muß Schmidt wirklich alle Brandt-Suppen auslöffeln — und die Deutschen mit ihm? Wäre es für eine künftige deutsche Ostpolitik nicht besser, Schmidt nähme eine Phase sowjetischen Unwillens in Kauf, um deutlich zu machen, daß er nicht all das zu erfüllen gedenkt, was die Sowjets aus Bahrs und Brandts Verheißungen herausgehört haben (wollen)? Ganz zu schweigen von der Opposition, die überhaupt keinen Grund hat, die unzulänglich ausgehandelten Ostverträge noch im nachhinein zu honorieren, wenn sie sich in eine Endspurt-Psychose der KSZE verwickeln ließe.

Warum nutzt man nicht vielmehr das enorme Interesse der Sowjets an einem plötzlichen und spektakulären Abschluß der von ihnen inaugurierten Konferenz, um ihnen in vorletzter Stunde noch einige entscheidende Zugeständnisse abzufordern? Haben die Regierungen des noch freien Europa nicht die moralische Pflicht, alles in ihrer Macht Stehende zu tun, um das Schicksal der unter kommunistischer Herrschaft lebenden Menschen zu verbessern? Was werden die einsamen Kämpfer der Bürgerrechtsbewegung in Rußland von uns denken, wenn sie eines Tages in der „Prawda“ lesen, für welches dünne Linsengericht wir das zumindest moralische Recht auf Protest gegen die Okkupation halb Europas aufgegeben haben?

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