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Ist deutsche Ostpolitik noch möglich?

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Ist eine deutsche Ostpolitik noch möglich? Diese Frage — anklingend an die Frage „Ist Friede noch möglich?“, die vor einiger Zeit Hermann Rauschning als Buchtitel wählte, muß mSn aufwerfen, wenn man das Resümee aus den letzten Nachrichten aus Bonn zum Thema „Ostpolitik“ nach Abbruch der diplomatischen Beziehungen Bonn—Belgrad zusammenzufassen versucht. Die Skepsis vor allem englischer Beobachter über eine frühere Aeußerung Außenministers von Brentano, daß „der Bruch mit Belgrad eine Aufnahme von Beziehungen mit Warschau keinesfalls ausschließe“, hat sich inzwischen als richtig herausgestellt: selbst die Absicht einer Entsendung von westdeutschen Wirtschaftsmissionen nach Polen ist in aller Stille begraben worden. Die Chancen für eine Belebung der deutschen Ostpolitik werden ganz allgemein zum jetzigen Zeitpunkt als praktisch „gleich Null“ bewertet — und dies in einem Augenblick, in dem die roten Monde den gesamten Westen zu einer Verstärkung seiner Strahlungen in den Osten einladen ...

In diesem Sinne hat der „Sonderdienst" der „Bundes-Korrespondenz G. m. b. H.“ (Frankfurt- Bonn) recht, wenn er davon sprach, daß die „Entscheidung der Bundesregierung, die diplomatischen Beziehungen zur Volksrepublik Jugoslawien abzubrechen, die wohl schwerstwiegende seit der Wiederherstellung der deutschen Souveränität in der Bundesrepublik" gewesen ist.

In der Diplomatie sollte man nun einmal so nüchtern, undoktrinär und so elastisch wie möglich Vorgehen. Das hat mit der prinzipiellen Seite eines Problems gar nichts zu tun! Ich schreibe zum Beispiel schon seit Jahren — und tat dies auch in einer Zeit, da sehr viele westdeutsche Kreise noch äußerst titofreundlięh waren! — mit großer Skepsis über das ganze „titoistische Experiment“ und bezeichnete Tito nicht nur einmal als einen reinen „Machtpolitiker und Opportunisten", während ich zum Beispiel Gomulka mehr persönliche Integrität zubillige. Es geht hier nicht einfach um „Tito“ und „Bonn“, sondern um eine echte Selbstbehauptung des Westens durch eine wirksame Politik, die sich nicht selbst Handfesseln anlegt.

.Auch das Auslandsecho auf diesen Schritt war übrigens gar nicht günstig. Es waren gerade die westlichen Verbündeten Bonns, die trotz allen offiziell bekundeten „Verständnisses" inoffiziell vielerlei Bedenken anmeldeten — vor allem in London und Paris. Sehr konsterniert war man schließlich in Warschau, während man in Wien deutlich von „gemischten Gefühlen"' sprach, mit denen diese Nachricht aufgenommen wurde, und einige Schweizer Blätter ganz sachlich den „Beginn neuer und zusätzlicher Spannungen in Mitteleuropa“ konstatierten, wobei die Basler „National-Zeitung“ noch wörtlich hinzufügte: „Bonn hat getreu nach der These gehandelt, daß es für andere Staaten unzulässig sei, außer Bonn auch noch Pankow anzuerkennen. Die nächsten Jahre werden freilich zeigen, daß der politische Wert dieser These vergänglich ist..."

Unmittelbar, nachdem der Bruch zwischen Bonn und Belgrad vollzogen war, erschien im Verlag Musterschmidt, Göttingen, der Bericht „Sonderauftrag Südost 1940—1945“ von Hermann Neubacher — bekanntlich einem Oesterreicher und ehemaligen Bürgermeister Wiens —, der sich ausführlich mit dem Problem Jugoslawien und den Fehlern einer früheren deutschen Jugoslawienpolitik befaßt. Wir lesen da u. a.: „Die für alle Kenner so überraschende Wendung in den Beziehungen Deutschlands und Jugoslawiens nahm ihren Ausgangspunkt von jenem Mangel an Fingerspitzengefühl und an lebensnaher Kompromißbereitschaft, die nun einmal für die mangelhafte politische Begabung der Deutschen charakteristisch ist!“ Diese Sätze bezogen sich auf den plötzlichen Ausbruch der deutsch-jugoslawischen Feindseligkeiten von 1941. Ihre Aktualität auch zu diesem Zeitpunkt ist augenfällig. An einer anderen Stelle betont der Autor: „Serbien war, als ich meine Mission antrat, eine der schwächsten Positionen des Balkankommunismus. Im serbischen Bauerntum, an dem später sogar der Kollektivisierungsfeld- zug der KP Jugoslawiens scheitern sollte, sah ich damals eine der stärksten Positionen gegen die Bolschewisierung des Balkans und stellte daher die sofortige Beendigung der bisherigen deutschen Besatzungspolitik Serbien gegenüber in den Mittelpunkt meiner Forderungen Diese aber wurden auf deutscher Seite abgelehnt und Neubacher gibt daher die Schuld daran, daß die Lage auf d m Balkan heute eben so ist wie sie ist, nicht zuletzt der damaligen verfehlten deutschen Südostpolitik. Heute ist Jugoslawien kommunistisch; Neubacher meint, es hätte nicht so kommen müssen. War es aber nötig, daß nunmehr jenes schon eben — wegen früherer Fehler! — jetzt kommunistische Belgrad derzeit auch wieder ganz und gar an den von Moskau geführten Ostblock heranrückt?

Wie dem auch sei — die Frage nach dem Gegenzug Bonns auf diesen „unfreundlichen Schritt" Titos ist durch den Abbruch der Beziehungen nun einmal beantwortet. Dies ist nunmehr eine Tatsache! Die gewichtigere Frage, was mit diesem Bonner Vorgehen erreicht werden wird und was künftig die Politik der westdeutschen Bundesregierung den ost- und südosteuropäischen Ländern gegenüber sein soll und kann, steht freilich nach wie vor noch vor uns! Die Bonner Note an Belgrad, welche jenen Bruch aussprach, enthielt anderseits nämlich auch nichts, worin man Ansätze in Richtung auf jetzt etwa noch verbleibende Möglichkeiten für jene „aktivere deutsche Ostpolitik" sehen könnte, von der in den Tagen und Wochen zuvor wiederholt die Rede gewesen ist. Es gibt eine Warschauer Version, die dem Schritt Titos vor aliem den Zweck unterschiebt, einer erfolg reichen Aktivierung der westdeutschen Ostpolitik in den Weg zu treten, weil so eine Politik Moskaus früher oder später unbequem werden müßte. Ist diese Absicht des Kremls jetzt, nachdem Bonns Beziehungen zu dem einzigen slawischen Staat außer Moskau nunmehr abgebrochen sind und derzeit wohl auch keine reale Möglichkeit besteht, diese zu anderen — etwa Warschau oder Prag — aufzunehmen, als geglückt zu betrachten?

Es wäre gewiß betrüblich und traurig, wenn dem tatsächlich so wäre. Hat man sich wiederum zu früh gefreut, als man seinerzeit die Versicherung des Kanzlers der Deutschen BundesrepiK blik vernahm, er werde in der jetzigen Legislaturperiode der Ostpolitik größere Aufmerksamkeit widmen? Gab Adenauers Fernsehinterview zum Problem Osteuropa und vor allem Polen nicht bereits zu kühnen Hoffnungen Anlaß und kommentierten dies nicht schon viele deutsche und ausländische Blätter als den effektiven ..Beginn einer neuen Ostpolitik“? Ist nun von all dem, von „Adenauers Ostplan“, plötzlich nichts mehr übrig? Hat man anderseits ganz jenes Interview vergessen, daß zur selben Zeit auch der Düsseldorfer ,,Industriekurier'' über den Wunsch ebenfalls Prags nach guter Zusammenarbeit mit Bonn — ein weiterer Ansatz für eine über Warschau erst einmal begonnene „neue Ostpolitik“ Bonns! — mit dem tschechoslowakischen Außenhandelsminister Ja-

roslav Kohout gemacht und veröffentlicht hatte? Soll nun dies alles zunichte geworden sein? Die Erklärung Dr. Adenauers in der ersten Debatte im neuen Bundestag, es fehle ihm an Phantasie, um gegenwärtig eine Ostpolitik anders als zuvor zu denken, verdient Beachtung.

Dies gerade im Moment der Sputnikpolitik und des Drängens aus Vertriebenenbünden und rechtsradikalen Kreisen nach direkten Verhandlungen mit Moskau. In der DRP-Zeitung „Der Reichsruf" (Hannover) konnte man unter dem Titel „Separatistische Ostpolitik — Geschäfte mit Gomulka?“ über jenen Polenvorstoß Adenauers lesen:

„Die Grunderfahrung polnischer Geschichte ist: die Verständigung der westlichen und östlichen Nachbarn Polens — Deutschland und Rußland — endete ohnehin immer mit einer polnischen Teilung! Wichtiger als Polen für unser Anliegen zu gewinnen ist also auch jetzt wieder die Verständigung mit Rußland Für Rußland ist der Preis aber kein Territorialproblem, sondern die Loslösung eines wiedervereinigten Deutschland aus der NATO! . .. Eine andere Konzeption ist freilich die Zielsetzung eines dogmatischen prinzipiellen Antibolschewismus: Pentagon und Vatikan treffen sich in dem Bestreben, die Macht Rußlands durch Abspalten seiner Satelliten auszuhöhlen. In diesem Rahmen hätte die .polnische Karte' schon eher einen Sinn. Aber unser deutsches Ziel ist nicht ein solcher Antibolschewismus: unser antibolschewistischer Kampf endet dort, wo deutsche Lebensinteressen beginnen!"

Viele werden geneigt sein, diese Stimme mit einer Handbewegung abzutun. Aber es mehren sich neuerdings auch schon andere Stimmen, die jetzt — nach dem angeblichen „Scheitern einer auf Belgrad und Warschau (?) gestützten deutschen Ostpolitik“ — eine ausschließliche Konzentration auf Verhandlungen mit Moskau befürworten, deren Weg — soll er erfolgreich sein — auf lange Sicht doch kein anderer sein könnte als der, welchen eben jenes DRP-Blatt andeutete. Ist also das vielleicht die Alternative, die aus der gegenwärtigen Sackgasse deutscher Ostbemühungen hinausführt? Schrieb doch anderseits auch das neonationalistische Blatt „Fortschritt“ (Düsseldorf): „Heute ist Preußen zwar noch eine anonyme Macht, aber eine Macht, die wächst. Von der alten Hauptstadt Preußens und des Reiches aus läßt sich jedoch jetzt schon begreifen, daß das eigentliche Geschehen der deutschen Wiedervereinigung gar nichts anderes sein kann als die Auferstehung Preußens!“ Derartige Sätze müssen bei Deutschlands östlichen Nachbarn wie ein Schock wirken: sieht man die Wiedervereinigung tatsächlich als „Auferstehung Preußens“, dann ist eben nur noch ein kleiner Schritt zu einer ebenfalls klassischen „preußischen Ostpolitik“ — die deutsch-russische Allianz gegen die „Zwischenzone", in der Warschau, Prag, Belgrad und Wien liegen!

Wollte Moskau eine solche Wendung bewirken, dann war freilich Chruschtschows „Rat“ an Tito, in dem Augenblick Pankow anzuerkennen, in dem Bonn schon erwog, Beziehungen zu Warschau und Prag aufzunehmen, ein in der Tat geradezu diabolisch-genialer diplomatischer Schachzug .. .

Was bleibt jetzt noch zu tun? Wie fern klingen heute die Sätze, die wir noch Ende September 1957 im „Sonderdienst" der „Bundeskorrespondenz G. m. b. H." lesen konnten: „Warschau und Prag stehen jetzt auf dem Terminkalender des Bonner Auswärtigen Amtes an erster Stelle. Diese beiden Staaten sehen auf ihrem Weg zur erwünschten nationalen Selbständigkeit ebenso viele Hindernisse vor sich wie die Deutschen vor ihrem Ziel der staatlichen Einheit. Unbedachte Handlungen könnten da Kettenreaktionen heraufbeschwören, die nicht anders ausgehen würden als die ungarische Katastrophe. Das wird man in Bonn zu berücksichtigen haben: jedem verantwortungsvollen deutschen Politiker muß es deshalb sinnlos erscheinen, bevorstehende Gespräche mit Forderungen zu belasten, die wie eine nicht einzulösende Hypothek wirken würden!“ Welche Forderungen damit gemeint waren, wird auch gleich hinzugefügt: die Wahlpropaganda des BHE und anderer Vertriebenenorganisationen! Die kürzliche Wahlniederlage des BHE — von Warschaus Presse seinerzeit übrigens gefeiert! — hätte also tatsächlich den Weg symbolisch freigeben können zu einer „Neuorientierung der deutschen Ostpolitik".

Verschwunden ist aber damit noch nicht der retardierende Einfluß radikaler Elemente aus den Vertriebenenverbänden auf die westdeutsche Politik an sich, und die „Neue Zürcher Zeitung“ konnte deshalb zu Recht vermerken:

„Die Aufgabe der Bonner Regierung, das Gespenst eines neuen deutschen Revisionismus zu vertreiben, wird durch die immer wieder erklingenden hysterischen Schreie aus dem Vertrie- benenlager nicht eben leichter gemacht. Durch das Ausscheiden des BHE aus dem Parlament ist dieses Problem politisch noch keineswegs gelöst, und die innenpolitisch notwendige Berücksichtigung der Vertriebeneninteressen wird Bonn auch in Zukunft zu im Osten unerfreulich empfundenen Kompromissen zjw en An einer anderen Stelle vermerkte „big war: „Vor allem sind es die Landsmannschaften, die vor Gesprächen mit der polnischen und tschechischen Regierung warnen und auch einen scharfen Kurs gegenüber Belgrad fordern!“ Mit dem Abbruch der Beziehungen Bonn-Belgrad, der mit frenetischem Jubel begrüßt wurde, haben diese Kreise jetzt wieder einen großen Sieg errungen .. . Und „Die Welt“ fährt fort: „Was sie hingegen wünschen, sind Gespräche mit den Emigranten der Ostvölker, den Gegnern der heutigen Regierungen. Diese haben jedoch kein Eigengewicht, und jene spekulieren schon darauf, ihnen ihren Willen und ihre Vorstellungen aufzuzwingen ..." In der Tat — auch unter den Emigranten unterhält man sich mit Vorliebe nur mit den kleinsten und unbedeutendsten Gruppen, die man verhältnismäßig leicht zu beherrschen hofft: das seinerzeitige „Abkommen“ der Sudetendeutschen Landsmannschaft mit der tschechischen Prchala- Exilsplittergruppe war ein Beispiel für ein derartiges Vorgehen und dafür, wie zum Beispiel das deutsch-tschechische Verhältnis noch zusätzlich zu allen an sich schon bestehenden Komplikationen vergiftet und bei dem anderen Partner Aergernis erzeugt werden kann . ..

Die westdeutsche Ostpolitik der Vergangenheit, auch der jüngsten Vergangenheit, ist gescheitert. Die USA und England zeigen sich durch die gegenwärtige Ueberlegenheit der russischen Raketen tief betroffen. Etwas von dieser Betroffenheit sollte sich auch im deutschen politischen Raum bemerkbar machen. Nicht im Sinn einer Panik und Hysterie, wohl aber als Aufforderung, umzudenken.

Was also ist da nun wirklich zu tun? Nach allem, was im Osten und Südosten Europas in dieser Generation schon geschehen ist, muß zunächst einmal ein immer noch bestehender Berg von Abneigung und Mißtrauen abgetragen werden, bevor man im Ernst überhaupt von einer „Wiederaufnahme von Beziehungen" zwischen Deutschland und jenem Raum reden könnte. Dies aber auch im eigenen deutschen Interesse: denn wenn es in absehbarer Zeit nicht gelingt, die Polen, Tschechen und Jugoslawen von einem grundlegenden Wandel im Denken und Fühlen des deutschen Volkes zu überzeugen und zu erhärten, daß dieses in seinen slawischen Nachbarn nur noch gleichwertige Partner Europas sieht, dann kann vielleicht einmal einer deutschen Ostpolitik ein Zufalls- p'folg in den Schoß fallen, aber niemals ein echter Erfolg von Dauer! Diese Erkenntnis müßte am Beginn einer jeden realen deutschen Ostpolitik stehen ... Und mag man durch die jüngsten Ereignisse auf dem Weg einer effektiven ostpolitischen Aktivierung in Bonn auch wieder einmal empfindlich zurückgeworfen worden sein, eines kann man trotzdem in diesem Sinne auch jetzt noch tun: vor allem in Deutschland selbst mehr Verständnis zu wecken für die Denkweise und ' Mentalität, die Interessen ünä Anliegen." und auch 'die Kultur dėt östlichen Nachbarvölker Deutschlands, die sich derzeit — und augenblicklich vielleicht wieder mehr als noch vor einigen Wochen und Monaten! —, nicht zuletzt durch deutsche Mitschuld im Machtbereich des Kreml befinden ...

Die hier aufgezeigten Schwierigkeiten Bonns, in ostpolitischen Fragen in konstruktiver Weise aktiv zu werden,,müßten für dię psterrčichisęhe Außenpolitik ein neuer Ansporn sein, von fien aus wirksam und wachsam zu sein.

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