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Der gejagte Kanzler

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Der einstige Regierende Bürgermeister von Berlin darf „seine“ Stadt nicht betreten, wenn er zu einem historischen Treffen nach Ost-Berlin oder an einen anderen Konferenzort fährt: der DDR-Ministerpräsident Stoph will den Bundeskanzler der Bundesrepublik so weit demütigen, daß er ihm sogar Reiseroute und Reiseziel vorschreibt. Freilich — so muß man fragen —, war Brandt wirklich so optimistisch, daß er auf ein Treffen ganz ohne Hintersinn hoffte? Kann man nach allen historischen Erfahrungen mit den Männern des Ulbricht-Regimes verhandeln, ohne Gefahr zu laufen, hineingelegt zu werden? Zum versuchten Diktat über die Reiseroute gesellt sich der Spott, der die Bonner Führung nach der jüngsten Spionageaffäre treffen muß. Da erfahren die Ostdeutschen die geheimsten Protokolle der Bonner Gespräche über die Verhandlungen, die man mit ihnen pflegen will. Und sind quasi mit dabei, wenn es um die Strategie dieser Verhandlungen geht. Es ist ja ziemlich klar, was die DDR will. Sie will mit dem Treffen und mit der Summe der bestehenden Kontakte vor aller Welt demonstrieren, daß sie von der Bundesrepublik faktisch ja sowieso anerkannt wird. Und mit Schikanen läßt sich bei der Bonner Anatomie sogar die formelle Anerkennung noch schneller erreichen als mit mühevollen Verhandlungen.

Aber Ulbricht und seine Genossen demonstrieren noch etwas zweites: sie absolvieren im Kontakt mit den Deutschen vom Rhein eine Pflichtübung den Sowjets und den anderen Satelliten gegenüber, die primär aus wirtschaftlichen Motiven mit Bonn nicht ewig Streit haben wollen. Also — so mag Ost-Berlin taktieren — zeigt man seinen guten Willen zum Gespräch mit Bonn — und läßt dieses entweder durch die neuerlichen zu verteufelnden Westdeutschen platzen oder demonstriert sich selbst vor aller Welt als jovialen, gleichberechtigten Partner, ohne auch nur ein Jota von seinen Grundsätzen abgehen zu müssen. Beides verrät geschickte Regie — die man in der westdeutschen Regierung scheinbar prompt mißversteht. Denn worum es Brandt in der ersten Gesprächsphase einzig und allein geht, sind die „Erleichterungen“ im Zusammenleben der Deutschen diesseits und jenseits der Mauer.

Darüber freilich will und wird Stoph nicht redens weil ihm Bonn in diesem Geschäft ja gar nichts mehr bieten kann, was er nicht sowieso bereits hat oder leicht bekommt. Denn auf jede menschliche Geste, die einen Wunsch der Ostberliner Führung verriet, hat Bonn immer

noch prompt und positiv reagiert. Brandt ist im Netz, das er sich selbst zusammen mit der deutschen Linkspresse knüpfte, gefangen. Denn auch die Gespräche mit der Sowjetunion und Polen sind — was den politischen Teil betrifft — zur Pflichtübung des guten Willens in Moskau und Warschau geworden. So bleibt der wirtschaftliche Aspekt einer Kooperation mit dem Osten; die kleineren Satelliten verdienen am Tauwetter (siehe Seite 3), die Sowjetunion läßt sich außergewöhnlich günstige Kredite im bislang bedeutendsten deutschen Ostgeschäft (Röhren um 1,5 Milliarden Mark) gewähren und sagt dafür sibirisches Erdgas für später zu. Aber die Sowjets weichen deswegen um keinen Deut von ihren politischen Maximen ab. Selbst Außenminister Scheel — sonst Berufsoptimist in Sachen Ostpolitik — muß das zugestehen. Moskau sitzt wie immer, wenn es mit dem Westen Geschäfte macht — am längeren Arm. Vorläufig reizt Bonn“ mit den guten Wirtschaftsbeziehungen ohne politische Gegenleistung nämlich nur die Neidgenossenschaft der westlichen Verbündeten. Eine „potemkinsche Fassade deutschsowjetischer Intimität“ nährt den historischen Verdacht im Westen, verschweigt aber der sowjetischen Öffentlichkeit, daß man zwischen Moskau und Bonn handelseins ist. Vielmehr übt sich die gleichgeschaltete Ostblockpresse weiterhin im Scharfschießen auf die Bonner Regierung, deren Wandlung nicht genüge, der es an Glaubwürdigkeit fehle und die eben noch nicht alle Wünsche der Genossen in Pankow erfüllt habe.

Daher bleibt der neuen Bonner Regierung aus SPD und FDP nachts übrig, als angesichts der eigenen Zusagen im Wahlkampf und in der Regierungserklärung mit dem Rük-ken zur. Wand weiterzureden. Pressionen hat sie längst nicht mehr in der Hand. Sie kann nur noch mit der Hoffnung auf den vielzitierten guten Willen in Richtung Osten verhandeln — wenngleich man kaum noch etwas hat, was man als Pfand verleihen oder als Ware verkaufen kann.

Heute fechten Bundeskanzler, Außenminister, der umbenannte Bonner Minister für „innerdeutsche Beziehungen“ und der SPD-Fraktionschef nur noch mit verklausulierten Worten zwischen der Anerkennung der DDR als „zweiter deutscher Staat“ und „nicht als Ausland“ — genauso, wie weiland eine eben von dieser SPD lächerlich gemachte CDU zwischen den Mauern der Hallsteindoktrin verbal zu manövrieren versuchte. Was am Anfang ein „Ausloten bis auf den Grund“ (SPD-Fraktiomsehef Wehner) war, ist jetzt eine definitive Anerkennung der deutschen Spaltung, die faktische Anerkennung des Ulbricht-Regimes und fleißige Vorleistungen für die Sowjets und ihre Satelliten. Die Anerkennung der DDR ohne Vor- oder Gegenleistung in formeller Hinsicht kann daher nur noch der Schlußstein der viel-umjubelten Ostpolitik sein. Nach einem halben Jahr einer neuen Ära in Bonn stimmt die Bilanz in Sachen Ostpolitik nachdenklich. „Brandt jagt nach einer unbestimmten ostpolitischen Trophäe“, meint die „Neue Zürcher-Zeitung“, aber es hat den Anschein, „als sei er selbst der Gejagte“.

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