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Vor der Sdilamm-sdilacht in Bonn

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Ein Deutscher in der Datscha bei Moskau — ein Außenminister aus der Bundesrepublik in (fast) privatem Tete-ä-tete mit einem Mitglied der obersten Kreml-Führung: Scheel bei Gromyko. Bier und Krimsekt. Eine Wende im Nachkriegseuropa?

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Ein Deutscher in der Datscha bei Moskau — ein Außenminister aus der Bundesrepublik in (fast) privatem Tete-ä-tete mit einem Mitglied der obersten Kreml-Führung: Scheel bei Gromyko. Bier und Krimsekt. Eine Wende im Nachkriegseuropa?

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Fast hat es den Anschein, wollte man den Verzückungen glauben, in die Boulevard-und Linkspresse verfallen sind. Ein „Pakt mit dem Kreml“, eine neue Alliance, die große Liebe zwischen Deutschen und Russen, die Stalingrad und Kursk nur überdeckt hatten — all das wird in ein Papier hineininterpretiert, das eine eiskalte KP-Führung im Kreml im Augenblick abzuschließen beliebt. Und hatte die gleiche Presse und hatten die gleichen Kommentatoren vor nicht einmal zwei Jahren noch gemeint, eine babylonische Finsternis von Prag her in Europa aufziehen zu sehen, scheint ihnen nun über den Kremlkuppen und -türmen die Sonne aufzugehen.

Nun, es sei klargestellt: Wer heute in Moskau mit den Deutschen verhandelt und wer im Kreml diesem „Vertrag“ (von „Gewaltverziichtsabkom-men“ Will die deutsche Seite ja nicht mehr reden) zustimmt, hat auch das Vertragspapier aufgesetzt, mit dem die Prager Führung ihre Souveränität zu verlieren gezwungen wurde. Die gleichen Männer — Breschnjew, Kossygin, Gromyko — haben die Brutalitäten des August 1968 begangen, haben „unverletzliche Grenzen“ verletzt, haben Freundschaftsverträge zerrissen und bilaterale Vereinbarungen zu Fetzen Papiers werden lassen...

Das alles, so scheint es, ist im Westen heute vergessen. Man spricht weder von der moralischen Qualifikation dös roten Vertragspartners noch von der Vertragstreue, die dieser Partner einzuhalten beliebt. Aber es mag sich jeder selbst einen . Reim darauf machen, wie man sowjetischen Zusagen und Verträgen glauben kann — wenn man nur die letzten 25 Jahre osteuropäischer Nachkriegsgeschichte Revue passieren läßt.

Aber viel wichtiger scheint zu sein, wie es jetzt weitergehen soll.

Daß die „Tauben“ in Moskau angesichts der chinesischen Bedrohung Ruhe im Westen haben wollen, daß sie sogar eine Allianz zwischen Peking und Bonn zu fürchten scheinen, daß sie deutsche Kredite brauchen und jetzt den Amerikanern — mit denen sie über Abrüstung in Wien verhandeln — vielleicht einen Schritt entgegenkommen wollen, steht außer Zweifel. Denn es scheint dem Kreml nicht einmal primär um das unterfertigte Bahr-Papier (mit Retuschen) zu gehen, sondern um darauf aufbauende Gespräche mit den Deutschen über „Zusammenarbeit auf wissenschaftlichem und technischem Gebiet“ (was Ged und „Know-how“ bedeutet).

Anders liegt es bei den Deutschen. Scheel kämpft mit dem Wasser bis zum Hals um seine eigene Position in einer zerfallenden FDP, ,und spä-. testens seit den Juniwahlen in drei deutschen Bundesländern weiß auch Bundeskanzler Brandt, daß der Appeal seiner SPD nicht mehr allzu attraktiv ist.

Scheel und Brandt kämpfen mit dem Moskauer Vertrag um ihre politische Existenz, und das — und nichts anderes — bildet auch den eigentlichen Hintergrund ihrer Forcierung ostpolitischer Auftritte. Was Scheel aus Moskau heimbringt, muß daher zwangsläufig dürftig sein. Die am Bahr-Papier angebrachten Änderungen sind nicht fundamental

— und sie haben den eigentlichen heißen Punkt nicht berührt: Berlin bleibt weiterhin dem Spiel der „Falken“ in Pankow und der Laune der heutigen und eventueller zukünftiger Kreml-Herren ausgeliefert. Und zwischen Kurfürstendamm und Alexanderplatz (Luftlinie drei Kilometer) wird man weiterhin nicht einmal telephonieren können.

Freilich, die DDR ist zwar de facto neuerlich anerkannt, aber es hat den Anschein, daß der Vertrag zwischen Bonn und Moskau Ulbricht und seinen Genossen alles andere als Freude bereiten dürfte. Es schwächt

— daran ist gar kein Zweifel ,—, die ostblockinterne Stellung des Ostberliner Regimes.

Hier scheint auch der „weiche“ Punkt der Opposition im Bonner Bundestag zu liegen. Barzel, Kiesinger und Strauß müssen sich doch letztlich eingestehen, daß es Bonn zum erstenmal gelungen ist, mit dem Moskauer „Schmied“ im Gespräch zu sein anstatt mit dem ..Schmicdl““ in Pankow Briefe zu wechseln, Flaggendiskussionen abzu-

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