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Gruß aus Rapallo

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Er spielt seine Schlüsselrolle meist diskret im Hintergrund. Tritt er mit politischen Aussagen hervor, beschäftigen sich Zeitungen und Zeitschriften der Bundesrepublik Deutschland oft über Wochen mit seinen Thesen. Er - das ist der Fraktionsvorsitzende der Sozialdemokraten im Deutschen Bundestag, Herbert Wehner.

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Er spielt seine Schlüsselrolle meist diskret im Hintergrund. Tritt er mit politischen Aussagen hervor, beschäftigen sich Zeitungen und Zeitschriften der Bundesrepublik Deutschland oft über Wochen mit seinen Thesen. Er - das ist der Fraktionsvorsitzende der Sozialdemokraten im Deutschen Bundestag, Herbert Wehner.

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Vor kurzem hat Wehner wieder einmal eine politische Lawine losgetreten, als er sich besorgt über eine mögliche Verschlechterung der Beziehungen zwischen der Sowjetunion und den westeuropäischen Staaten äußerte und die (militärisch unhaltbare) These aufstellte, die Rüstung der Sowjetunion sei defensiv.

Diesmal kam die Lawine nicht nach einiger Zeit wieder zum Stillstand, sie nahm ein gewaltiges Ausmaß an. Denn mit ihr kam auch die Diskussion über die Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten wieder in Gang. Und über der auch im Ausland wieder ins Gerede gekommenen Deutschlandpolitik schwebte - als habe man den Geist aus der Flasche gelassen - der Rapallo-Vertrag von 1922 wie ein Gespenst.

Rapallo steht für den Interessenausgleich zwischen zwei Verlierern des Ersten Weltkrieges, der Sowjetunion und dem Deutschen Reich. Rapallo steht auch für die nach dem Zweiten Weltkrieg zeitweise aufgetretene Angst der westlichen Staaten und Polens vor einem deutschsowjetischen Sondervertrag. Reste dieses Rapallo-Komplexes sind den Franzosen, Briten und Polen bis heute geblieben.

Aufgetaucht ist das Rapallo-Ge-spenst in Zusammenhang mit Spekulationen über mögliche Zugeständnisse Moskaus an Bonn, über eine Moskauer Bereitschaft, der allmählichen Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten grünes Licht zu geben.

Aufgegriffen wurden diese Vermutungen von verschiedenen Zeitungen, so vom Londoner „Daily Telegraph“, wo behauptet wurde, Fraktionsvorsitzender Herbert Wehner und SPD-Geschäftsführer Egon Bahr hätten in Moskau bereits über einen möglichen Rückzug der Bundesrepublik aus der NATO gesprochen.

Zwei Journalisten der „Washington Post“ fügten dem noch die Behauptung hinzu, Bundeskanzler Schmidt wolle Moskau entgegenkommen und nur noch der Stationierung solcher Raketenwaffen zustimmen, die nicht durch ein zweites SALT-Abkommen sanktioniert seien, also sogenannten „Grauzonenwaffen“.

Hinter allem stehe Herbert Wehner, meinte „Der Spiegel“ und behauptete, der SPD-Politiker arbeitete beharrlich auf ein Ziel hin: „ ,eine Konföderation oder eine Wirtschaftsgemeinschaft' zwischen Bundesrepublik und DDR.“

Mit Erstaunen, ja Besorgnis registrierte man das Wiederauftauchen alter Deutschlandpläne und die Einschätzung des sowjetischen Rüstungspotentials als defensiv durch SPD-Politiker vor allem auch in den oberen NATO-Etagen in Brüssel. Denn für die Bündnispartner der Bundesrepublik ist das Verhalten Bonns in diesen Fragen keine isolierte Angelegenheit. Schließlich ist die Bundesrepublik die stärkste europäische Macht in der NATO.

Was aber steckt hinter den Spekulationen und Vermutungen, die allerorten über die Politik der Bundesrepublik angestellt werden? Hat Moskau dieses politische Verwirrspiel inszeniert, um Unruhe in das atlantische Bündnis zu bringen? Sucht der Kreml Bonn auf den Pfad der Neutralisierung zu locken?

Tatsache ist, daß Moskau gegenüber der Bundesrepublik in letzter Zeit einige bemerkenswerte Zeichen gesetzt hat, offensichtlich, um Bonn seine Bereitschaft zu engeren Kontakten zu signalisieren. So wurde im November der als hervorragender Deutschlandkenner bekannte Wladimir Semjonow als neuer Botschafter in die Bundesrepublik geschickt. Weniger spektakulär, aber unverkennbar ist, daß die sowjetische Propaganda seit längerem mit der Bundesrepublik behutsamer verfährt.

Moskau dürfte es dabei vor allem darum gehen, Bonn an der Aufrechterhaltung eines „Klimas der Ent-

„Sucht der Kreml Bonn auf den Pfad der Neutralisierung zu locken?“

Spannung“ zu interessieren. Eine Gruppe innerhalb der regierenden SPD - neben den bereits erwähnten Politikern Wehner und Bahr gehören dazu der stellvertretende Fraktionsvorsitzende Horst Ehmke und der SPD-Wehrfachmann Alfons Pawel-czyk - scheint für diese sowjetische Terminologie besonders empfänglich zu sein.

Aber während diese Sozialdemokraten hinter den Entspannungsgedanken, wie sie der Kreml verbreitet, schon mögliche Ansätze für sowjetische Konzessionen hinsichtlich der deutschen Wiedervereinigung zu erkennen glauben (oder zumindest für weitere menschliche Erleichterungen im deutsch-deutschen Verhältnis), scheinen die Sowjets etwas ganz anderes im Schilde zu führen.

Moskau hat - betrachtet man nur die Taten - die Entspannungspolitik nicht als Stabilisierungsmaßnahme im Ost-West-Verhältnis aufgefaßt, sondern benützt, um sich ein enormes kontinentalstrategisches Arsenal anzulegen. Laut Auskunft des Bonner Verteidigungsministeriums wurden im vergangenen Jahr 120 bis 150 Stück der mit je drei Sprengköpfen versehenen Mittelstreckenrakete SS-20 in Stellung gebracht - angeblich die modernste und gewaltigste Rakete ihrer Art in der Welt.

Dazu kamen 150 mittlere Bomber des Typs „Backfire“, ein Waffensystem, das sich in erster Linie zur Bekämpfung von Seezielen eignet, also zur Unterbrechung der Nachschublinien zwischen Amerika und Europa eingesetzt werden könnte. Die weiterhin auf Ziele in Westeuropa gerichteten älteren SS-4- und SS-5- Mittelstreckenraketen sowie die in der

Ostsee stationierten Raketen-U-Boote runden dieses Bild des gewaltigen sowjetischen Angriffspotentials ab.

Indessen ist kaum anzunehmen, daß Wehner und seine Gruppe Gelegenheit finden, den Sowjets als Brecheisen zu dienen, mit dem die Kreml-Herren die Bundesrepublik vom westlichen Bündnis abspalten könnten. Denn der deutsche Bundeskanzler heißt nach wie vor nicht Herbert Wehner, sondern Helmut Schmidt. Dieser hat wiederholt erklärt, daß das Bündnis und die engen Beziehungen mit Amerika unerläßliche Grundlage der bundesdeutschen Sicherheitspolitik bilden.

Der Fehler Schmidts allerdings war es, auf sowjetische Einflüsterungen aller Art - etwa in Sachen Neutronenwaffe oder Waffenlieferungen an China - zwar negativ zu reagieren, die oben genannte Gruppe innerhalb seiner eigenen Partei aber verbal eine parallele deutsche Außenpolitik bestreiten zu lassen.

Die Sowjets können ja auch an der Peripherie ihres osteuropäischen Machtimperiums wohl kaum eine Veränderung größeren Stils zulassen. Eine tiefgreifende Veränderung wäre die Neutralisierung Deutschlands und in deren Folge eine von Moskau zu akzeptierende deutsche Wiedervereinigung. Widerstand wäre aber ohne Zweifel zuerst von den Polen zu erwarten, die in diesem Zusammenhang an ihre Westgrenze er-' innern. Denn die Oder-Neiße-Linie hat die Bundesrepublik - im Gegensatz zur DDR - bislang noch nicht mit letzter Verbindlichkeit anerkannt.

„Was hätten die Sowjets der Bundesrepublik für einen Wechsel ihrer außenpolitischen Orientierung anzubieten?“

Ganz abgesehen davon, daß ja auch die DDR-Führung ein Wörtchen mitzureden hätte. Die Frage aber bleibt stehen: Was hätten die Sowjets der Bundesrepublik für einen Wechsel ihrer außenpolitischen Orientierung anzubieten? Die Antwort ist klar: nichts.

Daß die amerikanische Außenpolitik derzeit erhebliche Unbeständigkeit zeigt und auch in Westeuropa schon Zweifel an der Verläßlichkeit der Amerikaner aufgekommen sind, kommt den sowjetischen Bestrebungen freilich zugute. Horst Ehmke hat in der Sicherheitsdebatte des Deutschen Bundestages die Kernfrage der Atomstrategie auch offen gestellt: ob die Vereinigten Staaten denn ihre eigene Existenz aufs Spiel setzen würden, wenn sie ihre europäischen Verbündeten nur noch mit Atomwaffen retten könnten.

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