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Das Deutschlandbild des Sowjetbürgers

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Die in der freien Welt Immer wieder gemachte Beobachtung, dal, die Meinungsbildung der breiten Bevölkerungsmassen weit mehr von den Lokalblättern bestimmt wird als von den großen überregionalen Zeitungen, die in erster Linie eine schmale, interessierte und meist bereits engagierte Intelligenzschicht erreichen, trifft sicherlich auch auf die Staaten des Ostblocks zu. Dort fehlt im Gegenteil die wettgestreute populäre Boulevardpresse, die in Westeuropa oder Amerika den Eindruck trübt. Hier soll versucht werden, an Hand der Presseorgane, die den Zeitungsmarkt in einzelnen Unionsrepubliken des Sowjetstaates beherrschen, zu untersuchen, welches Deutschlandbild sich ihre Leser machen müssen.

Die „Sowjetskaja Rossija" ist die Zeitung für die Russische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik, den mit gewaltigem Abstand größten Unionsstoat. So brachte sie einen Auszug aus einem Interview mit dem Oberbefehlshaber der strategischen Raketenwaffen, Marschall Krylow, der meinte, die jetzige Zeit erinnere ihn an die Zeit, in der sich Hitler auf sein kriegerisches Abenteuer vorbereitete. Bonn betreibe eine aggressive und abenteuerliche Innen- und Außenpolitik, deren Ziel es sei, einen neuen Krieg zur Beseitigung der jetzigen Grenzen zu entfesseln. Als „Beweise" nannte der Marschall die hohen Ausgaben für die Bundeswehr und das Bemühen um die Atombombe. In derselben Zeitung hatte K. Danilow behauptet, die Regierung der „Großen Koalition" in Bonn begünstige das Anwachsen des Neonazismus und Revanchismus. Die Sozialdemokraten hätten Sich der Politik der Christlichen Demokraten angepaßt. Die Aktivität revanchistischer Organisationen und der neonazistischen Nationaldemokrafischen Partei Deutschlands (NPD) werde durch die Politik Bonns gefördert. Ihre Grundelemente seien die Nichtanerkennung der DDR, der Wunsch nach Berichtigung der Grenzen, die „Einverleibung West-Berlins", die „Unterstützung des verbrecherischen Kriegs in Vietnam", die Hintertreibung des Atomsperrvertrages und die „Beseitigung der Demokratie durch die Notstandsgesetze". Für die Werktätigen seien erhöhte Steuern und andere Lasten das Ergebnis der Politik der „Großen Koalition".

W. Masi'fsch etwa ruft 'in der Nummer unter der Überschrift „Sabbat der Neofaschisten" die Welt dazu auf, im Interesse des Friedens die „braune Gefahr" zu unterdrücken. In einem anderen Artikel vergleicht er den Chef des Springer-Konzerns mit Hugenberg, dem „Zeitungskönig der Weimarer Republik", der „unter dem Befehl von Goebbels stand", eine historisch natürlich unhaltbare Behauptung. Springers angebliche „neonazistische Sympathien" begründet Masifsch damit, daß er mit der Tochter eines ehemaligen SS- Führers verheiratet sei; daß die Ehe seit vielen Jahren geschieden ist, erfährt der Sowjetleser nicht. Und der Umstand, daß Springer der Universität Jerusalem ein Bibliotheksgebäude geschenkt hat, ist für die „Sowjetskaja Rossija" kein Argument. Schreibt in dem Blatt doch der polnische Journalist Kafschmarek in einer Besprechung des Buchs „Israel und die Bundesrepublik Deutschland" des angeblichen Historikers T. Walichnowski, Bonn unterstütze Tel Aviv durch finanzielle und wirtschaftliche Hilfe. Als Gegenleistung bemühe sich Israel um die moralische Rehabilitierung Westdeutschlands in der Welf. Die zionistische Bewegung versuche, eine Beendigung der Verfolgung von Naziverbrechern zu erreichen. Daß jüdischerseits in aller Welt und in Isreal selbst gegen die schon einmal hinausgeschobene Verjährung derartiger Straftaten protestiert wird, erfährt der Sowjetbürger auch nicht. Schon im Mai bezeichnete W. Zapanow in der „So- wjetsfcaja Rossija" die Verleumdung der sozialistischen Staaten und die Verbreitung eigener chauvinistischer und revanchistischer Ideen als Hauptziel der deutschen Kulturpolitik. Die deutschen Kultureinrichtungen (Goethe-Institute und dergleichen) dienten dem Kampf gegen den Marxismus-Leninismus. Bonn sei geradezu von einer „Kuiturmission" besessen.

Stondardthemen der Sowjetpresse

Aus entlegeneren Unionsrepubliken kommen die gleichen polemischen Töne. Für S. Papjon im armenischen „Kommunist" befindet sich die Bundesrepublik Deutschland „in der gleichen Loge wie Hitlers Staat, mit den gleichen Zielen, aber unterstützt vom amerikanischen Imperialismus". Im „Bakinskij Rabotschij", der im fernen Aserbeidschan erscheint, enthüllt die TASS-Kommen- tatorin N. Sinowiewa Bonns „wahres Motiv" für die Unterstützung des englischen Beitritlsanfrags zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft: es erhoffe sich davon einen Zugang zum englischen Atompotential. Standardthemen sind angebliche Differenzen zwischen der Bundesrepublik und Frankreich und die deutschen Bedenken gegen den Atomsperrvertrag. Dabei nützen die sowjetischen Kommentatoren die Chance, sich auf kritische Veröffentlichungen in der Bundesrepublik, vor allem im „Spiegel" und in der „Zeit" zu beziehen. Das wertig ernstgenommene deutsche satirische Magazin „Pardon" wird zitiert, um zu behaupten, daß in der Bundesrepublik Nazi-Verbrecher frei herumlauien — wohl auf Betreiben der Z'iortisten, wenn man der „Sowjetskaja Rossija" folgen will. Weiß doch anderseits die „Sawjetskaja Molda- wija" zu berichten, daß die „Bonner Militaristen" den militärischen Erfolg der „israelischen Extremisten" als Modell für einen „Blitzkrieg in Europa befrachten.

Die „Sowjetskaja Estonija“ wieder sorgt sich um die Unabhängigkeit Österreichs. W. Dibrowa spricht von einem „kalten Anschluß" und beruft sich dabei auf Äußerungen des NPD-Vorsitzenden Thadden auf dem Parteitag in Hannover. Ein erster Schritt sei durch die Errichtung von Filialen westdeutscher Firmen in Österreich getan; Lizenzen und Kredite täten das übrige. Die Monopole In der Bundesrepublik Deutschland kontrollierten schon große Telle der österreichischen Wirtschaft. Fast ebenso absurd scheint es, wenn von einem unaufhaltsamen Wachsen der Arbeitslosigkeit in der Bundesrepublik gefabelt wird. Sie hat sich nämlich gegenüber dem Vorjahr noch halbiert — und das, obwohl sie auch damals schon extrem niedrig war. Gleich einige Blätter in den verschiedensten Gegenden der Sowjetunion übernehmen den Artikel des polnischen Autors E. Romanowski „Die Nachfolger Goebbels" über die „Deutsche Welle", die „Spelunke der Neonazis und Verräter" tituliert wird. Sie berichte im Stil hltlerscher Propaganda und wende sich Insbesondere gegen die osteuropäischen Staaten. Sie leugne gleichzeitig den Einfluß der Neonazis In der NPD, was aber auf ihrer propagandistischen Linie liege, da Faschisten und Reaktionäre In ihren Reihen arbeiten. Daß dieser ungerechtfertigte Angriff unter anderem aus Kasachstan kommt, kann der Kölner Sender „Deutsche Welle" als Beweis dafür buchen, daß er auch In Zentralasien gehört werden kann. Es bleibt zu bilanzieren, daß die antideutsche Propaganda im fetnen Sowjefrußland noch mehr die Tatsachen verdreht wie dieieniae, die an den Randgebieten der UdSSR nach Europa hin betrieben wird.

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