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Die Deutschen haben ihre Lektion gelernt!

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FpRCHE: Innerhalb der SPD wurde ein Diskussionspapier erarbeitet, das — verkürzt gesagt — auf eine Neutralisierung Deutschlands abzielt. Wie beurteilen Sie diese Tendenzen in der Deutschlandpolitik der Sozialdemokraten?

KARL DIETRICH BRACHER: Das sind sehr gefährliche Tendenzen. Auf dem Kölner Parteitag 1983 hat die SPD mit Mehrheit die Politik von Helmut Schmidt vom Tisch gewischt. Seither wird die SPD in der Deutschland- und Ost-West-Politik für unzuverlässig gehalten. Die SPD marschiert heute mit ihren außenpolitischen Vorstellungen eindeutig in Richtung Neutralismus.

FURCHE: Sind für Sie neutralistische Ideen überhaupt denkunmöglich?

BRACHER: Denkmöglich ist alles. Aber in der derzeitigen Diskussion innerhalb der SPD wird eine komplizierte Materie allzu sehr vereinfacht.

Da stellt man zum Beispiel immer wieder auf das österreichische Modell ab. Dabei werden allerdings die Unterschiede verkannt, die letztlich zum österreichischen Staatsvertrag geführt haben. Österreich war zwar auch von den Alliierten besetzt, aber es gab eine gemeinsame Regierung für das ganze Land. Das gab's in Deutschland nicht. Von diesem Grundfaktum wird die ganze Einbettung Deutschlands zwischen West und Ost bestimmt.

Da müssen sich die Dinge in der Welt schon grundlegend ändern, wenn man für die deutsche Frage Lösungen im Sinne einer Neutralisierung sucht.

FURCHE: Welche Beweggründe könnten dann die SPD dazu bringen, gerade heute eine derartige Diskussion in Gang zu setzen?

BRACHER: Die Entspannungspolitik in den siebziger Jahren hat natürlich Hoffnungen, aber auch Illusionen geweckt. Die Zahl derjenigen Bürger, die solchen Lösungsvorschlägen in der deutschen Frage zuneigen, ist größer geworden, vor allem deshalb, weil die SPD nicht gleichzeitig auch auf die Konsequenzen einer solchen Politik aufmerksam macht.

FURCHE: Wer sich in der Bundesrepublik umhört, dem wird bald auffallen, daß das gesamtdeutsche Bewußtsein offensichtlich abgenommen hat, das Bewußtsein, daß Deutschland mehr' ist als die Bundesrepublik.

BRACHER: Tatsächlich bemerken wir heute eine gewisse Verstärkung des Staatsbewußtseins in der Bundesrepublik, aber auch in der DDR. Das ist zum einen generationsbedingt, zum andem ein Ergebnis der langen Zeit der Trennung.

Gleichzeitig verstärkt sich aber auch das Interesse an der deutschen Frage. Dieses verstärkte Interesse manifestiert sich in einem Zauberwort, das vor sieben Jahren plötzlich hochkam und seither die Diskussion beherrscht: die deutsche Identität.

Diese Identitätsdiskussion schwappt auch in die DDR über. Bestes Beispiel dafür ist die Friedensbewegung. Plötzlich gab es auch in der DDR eine Friedensbewegung, die zwar unterdrückt wurde und wird, aber sie stand unter dem gleichen Gesichtspunkt wie die westdeutsche Bewegung: Wir Deutsche tragen die größte Verantwortung bei der Erhaltung des Friedens. Selbst die Regierungen in der Bundesrepublik und in der DDR deklamieren: Von deutschem Boden aus darf nie wieder ein Krieg ausgehen.

Das sind eminent gesamtdeutsche Empfindungen, die aber eigentlich in einem Widerspruch zur staatlichen Verfestigung stehen.

FURCHE: Wie leben die Deutschen mit diesem Widerspruch?

BRACHER: Da stecken gefährliche Potentiale dahinter. Die staatliche Ebene ist tabu, da ist auf absehbare Zeit nichts zu machen, an die Wiedervereinigung in einem Nationalstaat ist nicht zu denken. Auf der anderen Seite gibt es dieses große Gebiet von nicht-staatlichen Beziehungen, von Empfindungen, möglicherweise auch von politischen Potentialen.

Eine Zeit lang hat man das alles mit dem Begriff Kulturnation zugedeckt, aber dieser Begriff ist dafür nur begrenzt geeignet. In den siebziger Jahren hat Willy Brandt immer davon gesprochen, daß die Staatsnation verloren ist, die Kulturnation aber weiterbestehe. Dabei stellt sich sofort die Frage: Wenn die DDR zur Kulturnation gehört, was ist dann mit Österreich oder der Schweiz?

Der Begriff der Kulturnation ist also keine Antwort auf die deutsche Frage. Aber in der Debatte um die deutsche Identität kommt das Problem zum Vorschein, das wir Deutsche haben. Und das Interessante an dieser Debatte ist, daß sie sowohl von Links wie von Rechts gleichzeitig geführt wird. Die Offenheit der deutschen Frage wird dabei von beiden Seiten betont.

FURCHE inwieweit beeinflußt die Wiederentdeckung der Heimat die Diskussion um die deutsche Identität?

BRACHER: Der Heimatbegriff ist etwas, das man durchaus akzeptieren kann, er bringt eine verstärkte Bindung des Bürgers an sein unmittelbares soziales System mit sich. Aber er hilft nicht bei der Lösung des deutschen Problems.

Wir leben in einer harten Welt der Nationalstaaten und der Machtpolitik. Die Deutschen können sich da nicht raushalten. Vor 15 Jahren schon habe ich geschrieben, die Situation Deutschlands nach 1945 ist, als ein postnationaler Staat in einer Welt der Nationalstaaten zu leben.

Wir vertreten ja immer noch die Auffassung, daß die Bundesrepublik unser Staat ist, nicht aber unser Nationalstaat. Das ist natürlich ein Widerspruch, über den wir nicht hinwegkommen. Da behilft man sich dann mit solchen Hilfskonstruktionen wie Heimatgefühl.

FURCHE: Wie kann die ungelöste deutsche Frage in näherer Zukunft gelöst werden?

BRACHER: Die deutsche Frage kann in allernächster Zeit nicht gelöst, aber in zwei Richtungen entschärft werden. Die eine Rich-'tung ist die europäische Perspektive und die andere ist die Tatsache, daß wir in der Bundesrepublik sehr stark auch aus den Ländern heraus leben und die Selbstdarstellung der Zentralgewalt nicht so sehr in den Vordergrund stellen. Die föderalistische Idee bietet zwar keine Lösung an, sie ist aber ein gewisser Ausweg.

FURCHE: Und das innerdeutsche Verhältnis, das Verhältnis zur DDR?

BRACHER: Wir haben eine besondere Verpflichtung gegenüber der DDR, vor allem was die Durchsetzung der Menschenrechte dort anlangt. Wir müssen dabei natürlich sehr vorsichtig vorgehen, nicht gegen die Interessen der Bewohner der DDR, das heißt: wir dürfen die Menschenrechte nicht so vertreten, daß daraus Konfrontationen entstehen, aber wir müssen sie vertreten. Das erwartet man drüben von uns.

Selbst wenn die Mehrheit der DDR-Bürger dafür ist, daß ihr Staat als eigener Staat anerkannt wird, und wenn sie dafür sind, daß dieser Staat gefestigt wird, weil ja ein funktionsfähiger Staat für seine Bewohner tatsächlich angenehmer ist, so steht doch bei den Deutschen in der DDR zumindest im Hintergrund immer die Vorstellung — auch wenn sie sich das nicht immer eingestehen, weil es ja das Selbstwertgefühl belasten könnte —, daß , Westdeutschland für sie eine zusätzliche Stütze ist.

FURCHE: Manche Pessimisten prophezeien, daß die offene deutsche Frage letztlich nur in einer Katastrophe, in einem Dritten Weltkrieg enden kann ...

BRACHER: Die deutsche Frage und auch die Bewegungen, die die Deutschen in dieser Frage machen, werden heute, anders als nach dem Ersten Weltkrieg, von den Nachbarländern viel genauer beobachtet und kontrolliert, vom Osten wie vom Westen her. Weder Westdeutsche noch Ostdeutsche können sich heute sehr weit bewegen. Deshalb glaube ich auch nicht, daß die Lösung der deutschen Frage in eine Katastrophe mündet.

Das Interesse aller europäischen Länder einschließlich Österreichs wird verhindern, daß die Probleme, die Deutschland bewegen, zu internationalen politischen Problemen werden. Ich glaube auch daran — da bin ich gemäßigt optimistisch -, daß die Deutschen an sich ihre Lektion gelernt haben. Man kann heute schon in bestimmten Situationen an ihre geschichtlichen Erfahrungen appellieren, noch...

Karl Dietrich Bracher ist Professor für Politikwissenschaft an der Universität Bonn. Mit ihm sprach in Bonn Tino Teller.

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