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Wengers Deutschlandpläne

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WER GEWINNT DEUTSCHLAND? Kleinpreußische Selbstisolierung oder mitteleuropäische Föderation? Von Paul Wilhelm Wenger. Seewald-Verlag, Stuttgart-Degerloch. Mit 24 Karten zur politischen Lage. 422 Seiten.

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WER GEWINNT DEUTSCHLAND? Kleinpreußische Selbstisolierung oder mitteleuropäische Föderation? Von Paul Wilhelm Wenger. Seewald-Verlag, Stuttgart-Degerloch. Mit 24 Karten zur politischen Lage. 422 Seiten.

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Paul Wilhelm Wenger, Bonner Redakteur des „Rlieinischen Merkur", ist einer der streitbarsten und interessantester] Köpfe der gegenwärtigen politischen Publizistik in Deutschland. Durch die Heftigkeit seiner Angriffe macht er es seinen Gegnern leicht, seinen 'Freunden- schwer. Seit der Rede m Tauber-- bischofsheim am 20. April 195 8 steht er- im Brennpunkt der Auseinandersetzungen um eine geistige Selbstfindung der westdeutschen Außenpolitik. Sein Buch, „Wer gewinnt Deutschland?", ist ein echter Wenger: beladen und belastet mit an sich unnötigen Invektiven, mit Ueberspanntheiten, die auf einer sehr einseitigen Information über die geistigen und spirituellen Grundlagen und Entwicklungen der europäischen Geschichte beruhen. Es wäre leicht und billig, sich hier mit manchen Schiefheiten und Maßlosigkeiten auseinanderzusetzen. Wichtiger, gerade auch für den politisch interessierten Oesterreicher ist eine Beschäftigung mit den außenpolitischen Thesen Paul Wilhelm Wengers: dieses Enfant terrible ist bisher der einzige Kopf auf der „rechten“, bürgerlichkonservativen Seite in Westdeutschland, der sich offen mit der „tiefen inneren Unwahrhaftigkeit“ des historisch-politischen Denkens in der Bundesrepublik auseinanderzusetzen wagt. Wenger zeigt die Tabus, das Vakuum, ein inneres Chaos im politischen Denken einflußreicher Kreise Westdeutschlands auf, ein , schimärisch-illusionäres Wunschdenken, das der Wirklichkeit nicht ins Gesicht zu sehen wagt und dergestalt ein Opfer jener Mächte zu werden droht, die man bekämpfen möchte. In einer gewissen deutschen Polen-Feindschaft, aber auch Oesterreich-Feindschaft sieht Wenger wichtige Symptome deutscher Selbstverblendung. — Wenger plädiert für ein föderalistisches. Deutschland Jn .ejne.m föderalistischen Europa, an dem geschichtlich und organisch Osteuropa, vor a.llem Polen, gehört. Halten wir hier zumindest einige seiner „Dreißig Thesen“ fest, die er, ein katholischer Luther, im Protest gegen die Klischees und Dogmen einer gewissen deutschen Politik, an die Wand des Bonner Wirtschaftswunderhauses, eines -Glashauses, heftet. 1. „Wer den differenzierten deutschen Kultur- und Sprachraum unitarisch zusammenballt, sprengt Deutschland und Europa in die Luft.“ 3. „Deutschland gehört geographisch und geschichtlich drei Gürteln Europas an: mit dem Rheinland zu Westeuropa, zwischen Weser und Oder zu Mitteleuropa, jenseits der Oder zu Osteuropa." 4. „Die starre Zentralisierung des deutschen Raumes verhindert eine gesamteuropäische Förderation; sie beraubt Mitteleuropa seiner fließenden Uebergänge in Nord und Süd, Ost und West; sie bedroht alle Nachbarn Deutschlands mit einem föderationsunfähigen Hegemoniestaat, der die Abwehr ganz Europas herausfordert.“ 5. „Als europäische Mitte hat Deutschland nur die Wahl zwischen einem friedlichen und einem tödlichen Prinzip; entspannt, in sich selbst und mit seinen Nachbarn föderiert, garantiert es den Frieden — gepanzert und isoliert die Selbstzerstörung und Balkanisierung Europas“ ... „Wer den Raum zwischen Tilsit und Aachen demselben unitarischen Militärkonzept unterwirft, verfehlt Deutschlands differenzierte Ausgleichsaufgabe, provoziert den Zweifrontenkrieg und verewigt die Spaltung.“ 8. „Das Dritte Reich war kein zufälliger Exzeß, sondern die logische Konsequenz alldeutscher Machtmythologie des 19. Jahrhunderts. Diese alldeutsch-antieuropäische Tradition beruht auf der kritiklosen Verehrung Friedrichs II. von Preußen und des .Reichsschmiedes“ Bismarck, die im nationalsozialistischen Tryptichon Friedrich-Bismarck-Hitler gipfelt. Im Zeichen des Sieges gilt diese Kontinuität als heilig, im Zeichen der Niederlage als unanständig.“ 9. „Deutschland und Polen sind die beiden einzigen Staaten Europas, mit flüssigen, gegenseitig bestrittenen Grenzen, deren Verlauf von der jeweiligen Stärke Rußlands abhängt.“ 11 .Beide Ostgrenzen, die deutsche wie die polnische, müssen im Interesse der gesamteuropäischen Freiheit als provisorisch betrachtet werden, im Sinne eines moralischen Moratoriums.“ 12. „Die künftige deutsche Aufgabe nach Osten heißt nicht .achte Teilung Polens“, sondern Föderation mit Polen. . .. Europa kann nicht unitarisch geeinigt werden: nur ein aufeinander abgestimmtes, ineinander verzahntes System von Regionalföderationen kann das europäische und das legitime russische Sicherheitsbedürfnis befriedigen.“ 13. „Die isolierte Betrachtung und Behandlung der deutschen Frage treibt unsere osteuropäischen Nachbarn in die Arme Rußlands. Sie verführt den Westen zum Schutzakkord mit Rußland gegen Deutschland, zurück zum System der flankenbedrohenden Ententen.“ 14. „Die deutsche Frage ist nur ein Unterfall der Befreiung von hundert Millionen bolschewisierter Mittel- und Osteuropäer, die ihre Sklaverei dem Dritten Reich verdanken. Sie kann nur als Teil eines gesamteuropä-

ischen Friedensplanes gelöst werden, zudem die deutsche Sowjetzone in erster Linie die sowjetische Machtklammer zur Versklavung Polens und Böhmens ist.“ 15. ..Die bisherigen deutschen Europaformeln, .Zuerst Wiedervereinigung, dann erst Europa' oder .Heber die deutsche Wiedervereinigung nach Europa-, verdächtigen den europäischen Gedanken als Vehikel deutscher Hegemoniesüchte. Die einzig brauchbare, für alle Mächte annehmbare Formel lautet: Im Rahmen einer gesamteuropäischen, in Regionalföderationen gegliederten Friedensordnung zu einem gemeinsam, elastisch gegliederten deutschen Staatswesen auf der Basis der Allgemeingeltung der unabdingbaren Freiheits- und Grundrechte aller Völker.“ 17. „Die tiefste Wurzel der deutschen Spaltung liegt im Geistig-Religiösen. Sie begann mit der Glaubensspaltung.'' 28. „Die innere Föderalisierung Deutschlands ist.. . die Hauptvoraussetzung für die einzig mögliche Lösung der deutschen Frage: durch föderalistische Verflechtung Deutschlands mit all seinen Nachbarn. Norddeutschland muß endlich die von der Schweiz und Oesterreich seit Jahrhunderten vorgelebte Gemeinschaft mit ihren romanischen und slawischen Nachbarn ebenfalls verwirklichen — nach dem Modell der Montanunion.“ 29. „Hierfür im eigenen Volk durch Ueberwindung der nationalistisch-unitarischen Denkverkürzungen den Boden zu bereiten, ist die Hauptaufgabe deutscher Außenpolitik.“ 30. „Der Föderalismus ist und bleibt Deutschlands wirksamster Schutz, sein eigenes Lebensprinzip und seine große und edle Aufgabe für Europa.“

Man wirft Wenger unter anderem vor, er ergäbe sich einer romantizistischen Reichsträumerei, schwärme allzusehr für das Heilige Römische Reich Deutscher Nation und er habe für den deutschen Protestantismus nichts übrig. Wenger hat deshalb in sein Buch ein sehr beachtenswertes Schlußkapitel „protestantische Europäer“ aufgenommen und behandelt da von Leibniz über Kant zur Gegenwart neben Karl Jaspers, Golo Mann und Ludwig Dehio zu Recht auch das Geschichtsdenken von Carl R. Mueller- Graaf, dem gegenwärtigen Botschafter Bonns in Wien. Was aber die Reichsträumerei betrifft: Wenger fordert vom deutschen Denken und von der deut schen Politik „den hochgemuten, entscheidenden Schritt“, nämlich vom höchst problematischen Deutschen Reich des 19. und frühen 20. Jahrhunderts zum Imperium Humanitatis, zum „Friedensbund befriedeter Völker — im Herzen Europas, verflochten mit allen Nachbarn, in eidgenössischer Erbfreundschaft", wobei für Wenger die deutsch-polnische Freundschaft der Zukunft den Eckstein bilden soll künftiger europäischer Friedensordnung. Sein Appell lautet: „Jetzt gilt es, die Schiffe zu verbrennen, die besser nie benutzt worden wären, denn der deutsche Irrweg war kein Zufalls- und auch kein Zwangsprodukt der Geschichte, sondern ein Holzweg, vor dessen Betreten hochgemute und kluge Geister die Nation rechtzeitig gewarnt hatten . . ."

Wenger sticht in Wespennester und in anderes, Tieferes. Da der deutsche Schulunterricht ebenso wie der seelische Innenraum des deutschen Bundesbürgers weithin noch angefüllt .sind mit jenen Geschichtsbildern. die eine künftige Zusammenarbeit des deutschen Volkes mit seinen slawischen Nachbarn und mit sich selbst unmöglich machen, wagen wir nicht zu prophezeien, ob die notwendige innerdeutsche Aussprache und politische Besinnung angesichts der Wengerschen Thesen, Pläne und Erwägungen in Gang kommen wird. Notwendig ist sie. Das Notwendige geschieht aber sehr oft nicht, wie nicht nur die deutsche Geschichte zeigt. Für den Oesterreicher im besonderen sind nicht nur die sehr freundlichen Worte an die Adresse Oesterreichs (S. 109 ff.) lesenswert; wichtiger wäre ein heilsames Erschauern unsererseits über die Zukunftsunwilligkeit, Unproduktivität und Geistlosigkeit unseres politischen Denkens, das sich da mehrfach heilsam beschämen lassen mag durch die Kühnheit dieses deutschen Publizisten, der das Zeug in sich hat, ein bedeutender politischer Denker zu werden, wenn er ebenso herzhaft wie nach außen die Schlacht der Zukunft nach innen hinein aufnimmt, in die eigene Brust, zur kritischen Ueber- holung seiner Geschichtsbilder, die nicht selten in eigentümlichem Kontrast stehen zum Realismus seiner gegenwarts- und zukunftsbezogenen außenpolitischen Ideen.

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