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Ein Meisterwerk der Geschichtsschreibung

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Die „Deutsche Geschichte“, an die sich der damalige Karlsruher Hochschulprofessor Franz Schnabel vor einem Vierteljahrhundert wagte und deren ersten Band er 1929 veröffentlichte, erweckte zunächst Staunen ob der Allseitigkeit ihres Vorhabens, und dieses Gefühl wandelte sich in Bewunderung, als in verhältnismäßig kurzer Aufeinanderfolge bis 1937 vier Bände erschienen, in denen geographische und historische Grundlagen, der Aufbau und das Werden der deutschen Gesellschaft, ihre Begegnung mit den westlichen Strömungen, Klassizismus, Humanismus und Romantik, die Hinwendung vom Weltbürgertum zum Nationalstaat, sodann der Kampf zwischen Monarchie und Volkssouveränität, Erfahrungswissenschaften und Technik, endlich die religiösen Kräfte geschildert waren. Der Autor verleugnete nirgends seinen eigenen Standort, den des zeitverbundenen positiven Katholiken, bewahrte indessen ein ruhiges und gerechtes Urteil gegenüber jedem und gegenüber allen Ereignissen. Seine glänzende wortkünstlerische Begabung ließ ihn den rechten Ton der „großen Geschichtsschreibung“ treffen, den man im deutschen Sprachraum so selten vernimmt.

Doch wir haben damit noch nicht das Beste über Schnabels Werk ausgesagt. Hier das höchste Lob: entstanden in einer Zeit der .Umwertung aller Werte und der Aufwertung aller Unwerte, hat es die schönste Sicherheit des Urteils bewiesen, nicht beirrt durch den Lärm des Tages und dennoch hellhörig für den Klang der das Weltgeschehen in ihren Rhythmus zwingenden Melodien. So finden wir bei unserm Historiker die Auseinandersetzung mit Nationalsozialismus und Marxismus, ohne daß dies in unnötig deutlicher Polemik ausbräche. Das, was so im Ringen um die Wahrheit als Bericht und als Deutung geschaffen worden ist, hat sich im Feuer eines Weltenbrandes bewährt. Die nun erschienenen Neuauflagen der beiden ersten Bände — denen die der folgenden sich anreihen werden — haben zwar im einzelnen Veränderungen erfahren, das Wesentliche der Darstellung aber hat die Probe bestanden.

Frisch und herrlich, wie am ersten Tag, breitet sich vor uns das Bild der Grundlagen deutscher Geschichte im europäischen Zusammenhang. Es ist sehr fesselnd, Schnabels Darlegungen mit denen des Welschschweizers Gonzague de Reynold („La Formation de l'Europe“) und des Engländers Alington („Europe“) zu vergleichen. An der großartigen Gesamtschäü, auf deren tausend mosaikartig zusammengefügte Einzelheiten in dieser kurzen Anzeige nicht eingegangen werden kann, hätten wir im wesentlichen nur zweierlei zu bemängeln. Bei der Schilderung des Gegensatzes zwischen der westlichen und der deutschen Entwicklung tritt die kapitale Tatsache nicht genügend hervor, daß in England, Frankreich und Italien das für die gesellschaftliche Gliederung und die ständische Differenzierung Deutschlands grundlegende Blutprinzip weit früher der römischen Auffassung von der Rolle des Amtes, der kirchlichen von der der Bildung und der allgemein-antiken von der des Kapitals gewichen ist. Mit anderen Worten: im Reich war man zu Macht und Vorrang geboren. Der Kampf gegen diese Ansicht bildete das Wesen des Investiturstreites. Von Westen her wurde diese Anschauung langsam unter dem Einfluß römischer, kirchlicher und frühkapitalistischer Meinungen erschüttert. Einen Prüfstein dafür haben wir am Ebenburt-recht, das in Südwestdeutschland seit dem 12., in Westfalen und Niedersachsen aber erst seit dem 14. Jahrhundert in seiner Starrheit erschüttert wird. Ein zweiter Vorbehalt: gleich allen deutschen Gelehrten, unterschätzt — oder mißachtet — Schnabel die bedeutsame slawisch-baltische Komponente in der deutschen Geschichte. Zum Teil trägt daran die Un-kennmis slawischer Sprachen und der in ihnen erschienenen Literatur die Schuld, zum anderen Teil wurzelt dies in der Geringwertung des slawisch-baltischen Faktors, der doch so sehr an Gesamteuropas Werden mitgewirkt hat. Die Folgen dieses Ubersehens verspüren wir heute schmerzlich in der Zweispaltung unseres Erdteils, und die Deutschen sollten sie am eigenen Leib merken. Im übrigen bemüht sich Schnabel aufs löblichste, die gewohnten Irrwege der preußischen und der nationalliberalen Geschichtsschreibung zu vermeiden) so wird er der Haltung und der Aufgabe Österreichs gerecht, etwa bei der Würdigung Metternichs (neben Srbik, und nach ihm wäre die Schweizer Studie von Hans Rieben über Metternichs Europapolitik, 1942, heranzuziehen). Zu den vortrefflichsten Ausführungen Schnabels zählen die über die Hohenzollernlegende (wo der Autor, der die einschlägigen polnischen Veröffentlichungen nicht kennt, mit geradezu genialem Instinkt gespürt hat, daß der Hohenzollernstaat im 17. Jahrhundert nahe daran war, mit Polen zu verschmelzen und von Osten her seine Expansion zu nehmen), ferner die Seiten über den nationalen Gedanken bei den deutschen Denkern, vorab bei Fichte und Humboldt, die Parallele zwischen deutschem und französischem Imperialismus, hier das Streben nach Unterwerfung der anderen, dort nach deren Ausrottung oder Eingliederung.

Der zweite Band stellt in prächtiger Gliederung die Ordnung (nämlich die heilig geglaubte, alte, segensreiche) der Bewegung, also dem Liberalismus gegenüber, woraus sich als dritter Abschnitt der Kampf ergibt. Schwer fiele es, auch nur andeutungsweise den Reichtum dieses dramatischen Gemäldes des geistigen Ringens wiederzugeben. Wie sehr stößt nicht Schnabel in den Wesenskern vor, wenn er den Konservativismus als Verteidigung gegen Absolutismus und moderne Freiheitsbewegungen charakterisiert, die gleichermaßen naturgewachsene Bindungen zerreißen wollen! wenn er ihn als Hüter der Freiheit und der Rechtssicherheit, als Schirm gegen Bürokratie und Gewalt dartut und Wenn er als das Grundprinzip dieser Weltanschauung die naturwissenschaftlich-philosophische Uberzeugung klarlegt, alles müsse langsam reifen, des Menschen Macht ist begrenzt, und die Bäume Wachsen nicht in den Himmel! Nicht minder gelungen ist das Bildnis des Liberalismus, seiner zwei Flügel, des rechten und jenes linken, von dem sich später der -ozialismus abspaltet. Sehr richtig sieht Schnabel auch da, wie der Westen Deutschlands dem Osten zeitlich voranschreitet, wie sich die Folgen des „Jüngerseins“ der Kolonialgebiete noch im 19. Jahrhundert bemerkbar machen. Der Zusammenhang von Liberalismus, Bürgertum und industrieller Entwicklung wird, nochmals zutreffend und originell, im letzten auf den Willen der „neuen Menschen“ und der neu ans Staatsrüder kommenden Schichten gegründet, frei zu sein, und auf das Bewußtsein, durch die Unterwerfung der Natur als Herren der gewaltigsten Kräfte auch frei seih zu können. Es stimmt, daß der Liberalismus keine großen Führer hervorgebracht hat, wenigstens in Deutschland, und daß diesem Umstand seine geringere Rolle in diesem Lande m it zuzuschreiben ist (während in Italien Cavour, bei den Tschechen Masaryk echte Liberale waren). Hier verwechselt aber Schnabel Ursache und

Wirkung. Es ist kein Zufall, daß der Schöpfer des neuen Deutschen Reiches ein erzkonservativer Junker war. Bismarck hat eben den deutschen Geist in dessen preußischer Abart vollkommen ausgedrückt. Dürfen wir dieser Einwendung noch einige andere kritische Einwürfe zugesellen? Es besteht kein Grund, immer wieder für Sand und gegen Kotzebue, für die Burschenschaft und gegen die Heilige Allianz Partei zu ergreifen, dabei die einen als strahlende Engel, die anderen als Inkarnation des bösen Prinzips zu betrachten. Auch Stein ist nicht der tadelfreie Staatsmann gewesen, den man so gerne seinem Mitrheinländer Metternich gegenüberstellen möchte. Doch vielleicht tst es sogar von einem so gut uropä-ischen Deutschen wie Schnabel zu viel verlangt, hier ein wenig Eingehen auf die Gesichtspunkte zu fordern, die von außerdeutschen Historikern, wie Bainville, Seiliiere, Vermail, Andler, Lichtenberger, wie Feldman und Taylor hervorgehoben worden sind. Ein paar Kleinigkeiten, die stören: die österreichische Dynastie entstammte nicht der „deutschen“ Nationalität (S. 66), sondern der französischen, der die Herzoge von Lothringen bis zu Franz Stephan angehörten. Wir vermögen nicht einzusehen, warum Metternich ein geringerer Staatsmann als Bismarck gewesen sei (S. 59). Sein Werk hatte länger Bestand. Daß die württembergischen Stände den Jud Süß aufhängen ließen (S. 161), beweist keineswegs eine Art von Ministerverantwortlichkeit gegenüber den Ständen, die entschieden zu bestreiten ist, sondern einzig die Ohnmacht eines auf sich gestellten, gestürzten Fürstengünstlings, Sobald dessen Protektor dahingeschieden ist.

Wir möchten diese Besprechung nicht mit kleinen Richtigstellungen beenden, die unverdientes kleinliches Mäkeln an einer grandiosen Gesamtheit scheinen könnten. Danken wir vielmehr dem Verfasser nochmals für seine währende Leistung. Möge es ihm vergönnt sein, auch darin über Treitschke hinauszuwachsen, daß er dessen zeitliche Grenzen, das Sturmjahr 1848, überwindet und in den künftigen Bänden die Darstellung wenigstens bis zur Gründung des Zweiten Deutschen Reiches oder gar bis zu Wilhelm II. fortführen wird. Schon jetzt aber heißt es betonen, daß für die von ihm behandelte Epoche der „Deutschen Geschichte“ Schnabels nichts Ebenbürtiges zur Seite tritt und daß sie innerhalb der gesamtdeutschen Historiographie einen der vordersten Plätze birsprucht.

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