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Vom Geist der österreichischen Literatur

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Dieser Aufsatz unternimmt den Versuch, Wesenszüge des österreichischen Volkes an seiner Literatur aufzuzeigen. Damit ist natürlich auch gleichzeitig die Frage gestellt, worin sich denn die Literatur Österreichs von der Deutschlands, mit der sie ja die Sprache und nicht nur diese gemeinsam hat, wesenhaft unterscheidet. Der beste Weg, darauf eine Antwort zu erhalten, ist, das System an der Geschichte aufzuzeigen. Man tut des Guten zu viel, wenn man schon im Mittelalter in der auffallend in Wien konzentrierten Blüte des offensichtlich auf , der Volkstradition ruhenden mittelhochdeutschen Heldenepos (Nibelungenlied) und der Lyrik (Minnesang) typische Sonderzüge des österreichischen Wesens erkennen will. Damals, sagen wir um 1200, in einer Epoche, der Nationalstaaten im modernen Sinne überhaupt noch unbekannt*^ind, waren die Gemeinsamkeiten mit dem übrigen Gebiet des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation noch viel zu stark, als daß von einer österreichischen Sonderentwicklung maßgebend schon die Rede sein könnte. Die unbezweifelte Größe und Bedeutung des im österreichischen Raum während des Mittelalters zutage tretenden Schrifttums beruht viel mehr auf sozialen und politischen Gründen als auf einer von Haus aus' gegebenen Stammessonderart. Zur Babenbergerzeit sind diese Gründe die auffallende Vormachtstellung der Herzoge und ihres mäzenatischen Wiener Kunsthofes, im späteren Mittelalter und zur Zeit der Frührenaissance ist es das für die Entfaltung hoher Dichtung besonders günstige Klima des Kaiserhofes, das die Wiener Renaissance zu einer Höhe emporhebt, wie sie nur ein politisches Zentrum und gleichzeitig ein Schnittpunkt der Nord-Süd- sowie West-Ost-Achse der abendländischen Kultur der Zeit ermöglichte.

Mit der Glaubensspaltung, dem „konfessionellen Zeitalter“, und mit der in ganz Europa sich entfaltenden nationalstaatlichen Kultur beginnt sich auch in Österreich jener Volkscharakter zu bilden, den wir noch heute als für den Österreicher typisch ansehen. Die Zerreißung des bis dahin einheitlichen deutschen Kultur- und Sprachgebietes in zwei Konfessionen legt den Grund auch zu einer Doppelgeleisigkeit der deutschen Literatur.

Auf den ersten Blick fällt auf: die Dichtung der Protestanten ist viel mehr auf die Buchkunst (Lutherbibel) gestellt als die des katholischen Österreichs. Dieses, im Banne der Gegenreformation stehend, entwickelt eine „Literatur“ im engeren Sinne der Buchkunst nur in zweiter Linie. Hingegen gewinnt es seinen stärksten Ausdruck in der Form des festlich-theatralischen Gesamtkunstwerkes, das sich nicht nur an den abstrakten Gedanken, sondern in erster Linie an alle Sinne des Menschen wendet, um ihm die Wunder des Kosmos und die von einem himmlischen Nimbus umstrahlte Stellung des Kaisers in diesem sowie die Glaubenswahrheiten im Sinne der barocken Gegenreformation einzuprägen. Das theatralische Fest, die Schaustellung und die sinnfällige Allegorie und Symbolik, also die Umsetzung des Gedankens nicht in Sprache und Schrift, sondern in Schauen und Hören, bildet den weithin bestimmenden Grundzug der österreichischen Barockdichtung und beginnt nach dem Dreißigjährigen Krieg immer tiefere Spuren in den österreichischen Volkscharakter zu gra-bene. Vielleicht ist es gewagt, auch den für den Österreicher so bestimmenden Wesenszug der „Wirklichkeitsstimmung“, wie man dies einmal nannte, auf diese Erziehung eines gesamten Volkes durch die Gegenreformation zuiückzu'.ühren. Trotzdem sei dieser Gedanke hier wenigstens angedeutet. Geht man etwas unter die Oberfläche, dann sieht man sofort, wie schon die politische Lage Österreichs zur Zeit seiner größten Machtentfaltung während des 17. Jahrhunderts eine Theaterkunst entwickeln mußte, die nicht sosehr die Nationalsprache — dies war in dem von der Gemeinsprache der Lutherbibel beherrschten sächsisch-mitteldeutschen Raum der Fall — als vielmehr die übernationale Sprachform des Latein gebrauchte.

Von den Grundkräften, die die Literatur Österreichs formten, sei hier zunächst der Katholizismus hervorgehoben. Damit ist jn diesem Zusammenhang nicht sosehr eine ausschließliche Gebundenheit der österreichischen Dichtung an religiöse Themen und Symbole gemeint als vielmehr der der gesamten österreichischen Literatur eigene Orgelpunkt der Idee einer überindividuellen Seinsordnung, eines ordo universi göttlichen Ursprungs. Eine andere Kraft unserer Dichtung ist die Säkularisierung dieses Katholizismus durch die rationalistische Philosophie von L e i b n i z, durch die katholische Aufklärung und den Jansenismus, vereint im „Josephinismus“ des 18. Jahrhunderts. Eine Erscheinung wie Grillparzer zum Beispiel ist wahrscheinlich überhaupt nur aus solcher Durchdringung zu verstehen. Grillparzer war bekanntlich freisinniger Josephiner, verrät aber in seinen Aussprüchen, denen weltanschaulicher Gehalt zuzuschreiben ist, auf Schritt und Tritt die Schule des Katholizismus. Die Worte Kaiser Rudolfs aus dem „Bruderzwist im Hause Habsburg“ von der Ordnung sind ohne Mühe mit der Idee des augustinischen ordo universi in Einklang zu bringen. Die in „Weh dem, der lügt“ ausgesprochene Überzeugung: „War' nur der Mensch erst wahr, er war' auch g u t“ legt Zeugnis ab für den dem katholischen Gedankengang zugehörigen Primat des Logos vor dem Ethos.

Um diesen Gedanken in seinem ganzen Gewicht würdigen zu können, muß man einen Blick auf die protestantische Gegenseite der Literatur werfen. Die Epoche der deutschen Klassik und Romantik, der idealistischen Philosophie, entstammt zumeist dem Geiste des Protestantismus und bekennt sich zum Primat des Ethos vor dem Logos, zum Primat des Willens vor dem Sein. Faust übersetzt ausdrücklich den Anfang des Johannesevangeliums nicht mit „Im Anfang war das Wort“, sondern mit „Im Anfang war die Tat“. Hier scheiden sich die Geister. Grillparzer wurde nicht müde, in seinen Dichtungen eben diesen faustischen Willensmenschen, den die philosophische Anthropologie „homo faber“ nennt, in seiner Krisenhaftigkeit gegenüber der festgefügten Seinsordnung aufzuzeigen, wie sie der anthropologische Typus des „homo divinans“ als göttliche Harmonie der Welten zu seinem Ideal erhebt.

Eine vorwiegend von protestantischen Deutschen geschriebene Literaturgeschichte hat es bisher versäumt, der Wesenserforschung des ursprünglich katholischen Raumes die gleiche Sorgfalt angedeihen zu lassen wie der Literatur der Protestanten. Daher konnte es kommen, daß die österreichische Literatur, dem Wesen nach ganz ungerechtfertigt, als eine Art provinzielles Anhängsel der deutschen hingestellt wurde. Es wäre nun an der Zeit, auch dem katholischen Raum und seiner Literatur den Blick zuzuwenden. Wer sich die oben angedeutete Antinomie, von homo faber (Willensprimat) und homo divinans (Primat der überindividuellen Seinsordnung) zu eigen gemacht hat, der versteht nun auch, warum Österreich allen Literaturströmungen, deren Wesen in Umsturz und Zerschlagen alter Formen lag, sei es nun Sturm und Drang, Romantik, Naturalismus oder Expressionismus, nur zögernd folgte. Das hat nichts, wie oft behauptet, mit Schläfrigkeit oder Schlappheit zu tun, sondern rührt einzig und allein von der dem österreichischen Volkscharakter durch den Katholizismus anerzogenen Idee einer ewig gültigen Seinsordnung her, die unverrückbar ist und der gegenüber aller menschlicher Wille nur' Überhebung bedeutet.

So kann man sogar die Worte wagen, daß zur Zeit, als die Philosophie die Religion in ihrer Wirkung auf die Geister ablöste, in der Epoche der Aufklärung, zwei Philosophen auftraten, in denen sich die Antinomie katholisch-protestantisch auf philosophischer Ebene wiederholte. Das waren Leibniz und Kant. Leibniz, obwohl von Haus aus Protestant, jedoch katholischem Denken zugeneigt und die Konfessionen wieder zu vereinigen trachtend, wurde der Patron des österreichischen Geistes, Kant hingegen der des protestantischen Deutschlands. Dies stellte sich heraus, als an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert eben in Österreich in dem Philosophen B o 1 z a n o und seiner Schule eine Geistesrichtung zur Herrschaft gelangte, die im Grunde eine Leibniz-Renaissance genannt werden kann. Einer ihrer bedeutendsten Vermittler für Österreich war im Vormärz und besonders nach 1848 Herbart, der in seiner Monadologie ähnliche Wege wie Leibniz ging. Nichts ist bezeichnender für die philosophische Entfaltung der Idee einer ewigen Seinsordnung gegenüber der Überzeugung, daß der Mensch das Maß aller Dinge sei, als der Kampf Bolzanos gegen Kant. Bolzanos Logik erkannte „Wahrheiten an sich“, also vom Menschen und seiner Erkenntnis unabhängige logische Wahrheiten; eine These, die den Schülern des Erkenntnistheoretikers Kant unsinnig erscheinen mußte.

Ohne hier im einzelnen alle Wegwindungen des österreichischen Denkens aufzeigen zu können, sei nur noch auf die große Zäsur 1890 hingewiesen. Fast mit dem Glockenschlag 1S90 tritt hier eine Gruppe von Dichtern auf (Hofmannsthal, Schnitzler, Bahr und andere), die Österreich europäisieren wollen. Bahr vermittelt den dernier cri aller europäischer Literatur nach Wien, insbesondere den Frankreichs. Rußland hatte früher schon stark durch Gogol und Turgeniew gewirkt. (Zeugnis dafür: die Novellistik Sacher-Masochs, Ebner-Eschen-bachs und Saars.) Doch das dauerte nicht lange. Eine stark traditionalistisch gestimmte Literatur löste diese „Europäisierung“ wieder ab. Es ist nicht uninteressant, zu hören, daß Bahr im Übermut der Jugend erklärte, Österreich habe überhaupt noch keine Literatur. Alle großen Dichter, die Österreich bis dahin aufzuweisen hatte, seien nur geniale Einzelgänger gewesen. Vielleicht ist etwas Wahres daran, wenn man von einer Literatur erwartet, daß sie aus dem Medium einer einheitlichen Gesellschaftstradition erwachse. Das blendete Bahr an der französischen Literatur den Blick. Ganz übersehen aber konnte man doch nicht, daß Österreich, das vielsprachige, übernationale, ja eben wegen seiner Übernationalität keine einheitlich nationale Gesellschaft aufweisen konnte. Aber dieser Mangel wurde wettgemacht durch den unverkennbar gemeinsamen Quellgrund des Katholizismus, der, hindurchgegangen durch den Filter von Rationalismus und Aufklärung, genauer katholischer Aufklärung, die übrige Weiterentwicklung des protestantischen Deutschlands zu einer Dichtung und Philosophie der reinen Tat, des ethischen Primats und Willens (Symbole: Prometheus, Faust, Zara-thustra) nicht mitmachte. Der Philosophie sind diese Antinomien viel geläufiger als der Literaturgeschichte, wenn sie zum Beispiel geradezu von der Leibniz-Schule des 19. Jahrhunderts als von der „österreichischen Schule“ schlechthin spricht. Die Auseinandersetzung zwischen Romano Guardini in dem Kapitel „Der Primat des Logos vor dem Ethos“ seines Liturgiebuches und A. Baeumler in seiner Rede „Fichte und wir“ hat gerade diese Antinomien scharf heraustreten lassen und gezeigt, wie sehr sich gerade eine Zeit wie die jüngst vergangene zwischen diesen beiden letzten Möglichkeiten entscheiden muß. Da wendet sich der Blick der weniger beredten, aber um so eindringlicheren Verheißung jenes auf deutschsprachigem Gebiet in erster Linie in Österreich gepflegten Geistes des universalen Ordnungsideals des homo divinans zu, um von ihm jenen Trost zu empfangen, den das Ideal des in sieji gegründeten, nur auf sich selbst gestellten Menschengeistes des homo faber kaum zu gewähren vermag.

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