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GIBT ES EINE ÖSTERREICHISCHE LITERATUR?

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Bei der Lektüre der Gesamtdarstellungen der deutschen Literaturgeschichte aus den letzten Jahren kommt man gar nicht auf den Gedanken, eine solche Frage zu stellen. Hier sind die österreichischen Dichter neben den deutsch-schweizerischen zwar mehr oder weniger berücksichtigt, aber eingeordnet in einen gesamtdeutschen Entwicklungsverlauf. Die gemeinsame Sprachgrundlage mit Deutschland, der gemeinsame Buchmarkt, das vielfach gemeinsame literarische Leben — alles das hat zusammen mit der zunehmenden Kritik an einer landschaftlich und stammhaft orientierten Literaturgeschichte, deren Schöpfer Josef Nadler war, eine solche Fragestellung in den Hintergrund gedrängt.

Hierbei wirkte auch die Schwierigkeit mit, „Österreich“ als politischen Begriff durch die Jahrhunderte hin, oder wenigstens seit Ausgang des Mittelalters, zu verfolgen und festzulegen. Die Diskrepanz der Räume und der staatspolitischen Formungen, etwa zwischen dem Weltreich Karls V. und der Republik Österreich, ist außerordentlich groß. Die seit 1945 eingetretene, inzwischen wieder etwas gelockerte Abschnürung vom Osten machte das noch deutlicher. Gibt es nun dennoch dieses östernreich als ein geistiges, Deutschland gegenüber eigenständiges Kraftfeld, gibt es daher eine eigene österreichische Literatur? Wir würden es uns bei Beantwortung dieser Frage allzu leicht machen, würden wir alles das, was an kultureller Leistung innerhalb der Grenzen Österreichs festzustellen ist, etwa im Mittelalter oder in der Barockzeit, als „österreichisch“, als Zeugnis einer österreichischen Sonderentwicklung reklamieren. Fast bis zum Ende des Mittelalters ist dieses Österreich ein Siedlungsland, dessen biologische und kulturelle Kraftströme vom Westen nach Osten fließen. Hier österreichische Eigenheiten feststellen zu wollen, würde eine künstliche Abschnürung dieser von West nach Ost verlaufenden Strömungen bedeuten, in der Kunst ebenso wie in der Literatur. Dennoch beginnen sich im 11. und 12. Jahrhundert in der Herrschaft der Babenberger-Herzoge schon zaghaft politische Sonderentwicklungen abzuzeichnen. Was aber literarisch in diesem Raum entsteht, ist Gemeingut der deutschen Literatur, sowohl in der geistlichen Dichtung als auch — besonders tiberzeugend — in der Heldensage und im Minnesang.

Mit der Begründung des Habsburgischen Weltreiches geraten wir in völlig neue Zusammenhänge, da jetzt das Kernland Österreich und vor allem Wien ein zentraler Verwaltungskern von Großräumen wird, des Großraumes des römisch-deutschen Reiches sowohl als auch eines weit darüber hinausgehenden Großraumes Habsburgischer Erblande, der zeitweise Italien, Spanien und Südamerika umfaßt. Nach dem Sieg an den Hängen der Wiener Hausberge gegen die Türken im Jahre 1683 beginnt dieses Großreich in einer Ungeheueren Ausdehnung über Tausende von Kilometern hin-^ “weg“ nach dem Osten auszügreifen und wird mit diesen Eroberungen reichlich für die allmählich verlorengehenden Bastionen im Westen entschädigt.

Es folgen nun zwei Jahrhunderte, die das geprägt haben, was wir in den Höchstleistungen als österreichische Kultur ansprechen können. Der politischen Gewichtsverlagerung nach dem Osten — Spanien und Italien scheiden aus, Deutschland löst sich allmählich vom Habsburgerreich los — entspricht eine spezifisch österreichische Kulturentwicklung, die dem Chor des gemeineuropäischen Habsburgerstaates mit den Stimmen der Deutschen, der Spanier, der Italiener usw. auch die Stimme der Slawen zugesellt. Fast keine europäische Nation fehlt unter dem Dach des von seiner Dynastie getragenen Staates. Jetzt erst können wir in der übernationalen Klammer des Vielvölkerstaates die sittliche Idee eines friedlichen Neben- und Miteinanders der Völker erkennen, die sich nun neben der staatspolitischen Gemeinsamkeit auch der Gemeinsamkeit einer Geisteskultur immer entschiedener bedienen. Sie folgen dabei dem geringsten Widerstand und finden zu rst in der büdenden Kunst und in der Musik zueinander, erst später und durch die Verschiedenartigkeit der Sprachen gehemmt in der Literatur.

Es ist daher zuerst die bildende Kunst, in der die österreichische Kultur ihre erste Verwirklichung erfährt, etwa in dem großartigen Dreigestirn der barocken Architektur Fischer von Erlach, Hildebrandt und Prandtauer. Ihr folgt in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts die Musik mit Mozart und Haydn.

In der Literatur jedoch bleibt es noch still. Zwar hat das Barocktheater auch in Österreich seine Spielstellen und seine Dichter (zum Beispiel Jakob Bidermann), aber hier dürfen wir nicht dem Fehler verfallen, geographische Lokalisierungen als Begründungen für die Konstruktion einer österreichischen Literaturgeschichte zu benützen. Die Kunstsprache des barocken Ordensdramas der Gegenreformation war von München bis Graz dieselbe. Eher kann man schon beim lokalen Wiener Volkstheater von den Tagen Stranitzkys an von einer beginnenden — allerdings nur auf begrenztem Raum wirkenden — österreichischen Tradition sprechen. Aber noch immer ist der große Dichter nicht da, der sich dieser lokalbedingten und eigenständigen Formen bedienen würde.

*

Es mangelt im 18. Jahrhundert in der österreichischen Literatur — oder sagen wir noch immer richtiger: im österreichischen Raum — an großen Persönlichkeiten. Man muß sich vor Augen halten, daß hier einem Klopstock, Lessing und Wieland der in Deutschland weithin unbekannte und nicht in jeder Literaturgeschichte verzeichnete Bardendichter Michael Denis als Repräsentant einer sogenannten österreichischen Literatur entgegenzuhalten wäre oder der Wieland-Schüler Alois Blumauer. Zeitlich entspricht der Weimarer Klassik zwischen 1790 und 1805 das Wirken der Österreicher Heinrich Joseph von Collin mit seinen verschollenen Römerdramen, der Vielschreiberin Karoline Pichler und noch einiger anderer, die sich sogar in großen Literaturgeschichten nicht finden. Die deutsche Romantik hatte in Österreich keine Schule. Ein Johann Gabriel Seidl, Johann Nepomuk Vogl, Ladislaus Pyrker, Joseph von Hormayr, Franz Freiherr von Zedlitz lassen sich ihr niemals gleichwertig an die Seite stellen.

Erst mit dem Erscheinen der „Sappho“ von Franz Grill-parzer im Jahre 1818 können wir, sozusagen schlagartig, von einer eigenständigen österreichischen Literatur sprechen. Es ist der Dichter — und die jüngsten Darstellungen von G. Baumann (1954) und W. Naumann haben das besonders überzeugend gezeigt —, der sich keinem literarischen Begriffsschema einordnen läßt, weder der Klassik noch der Romantik, dem Biedermeier, dem poetischen Realismus usw., sondern nur dem geistesgeschichtlichen und kulturellen Begriff „Österreich“. Aber auch andere österreichische Autoren der Zeit nach Grillparzer, wie zum Beispiel Lenau (ein „Romantiker“?) oder die großen österreichischen Realisten („poetischer Realismus“?), werden in einer solchen Zwangs-schematisierung verkannt. Das spezifisch österreichische an dieser Literatur wird hierbei nicht berücksichtigt. Jedenfalls beginnt die österreichische Literaturgeschichte mit der Un-erklärbarkeit des Falles Grillparzer im Rahmen bisheriger Gesamtdarstellungen und ihrer Kategorien. Es muß einer künftigen österreichischen Literaturgeschichte überlassen bleiben, hier Linien zu ziehen, Abstände festzustellen, Entwicklungen im Weltbild von Grillparzer bis heute zu zeigen.

Zur Einzelerscheinung den größeren Rahmen hinzudenken — das ist in Grillparzerschem Sinne gedacht. In diesem Sinne ist schon die berühmte Novelle „Der arme Spielmann“ beweiskräftig — und Walter Naumann war es, der in seinem Grillparzer-Buch dieses Werk als ein Schlüsselwerk für das Gesamtwerk Grillparzers wie für die österreichische Literatur nach Grillparzer gedeutet hat. Grillparzer wollte in dieser Figur des armen Spielmann seine „Insuffizienz“, sein Unge-nügen an sich selbst ausdrücken. Aber er meinte dies nicht im Vergleich zu seihen Zeitgenossen — wir haben genug Zeugnisse der Verachtung Grillparzers gegenüber den oft zweifelhaften literarischen Gestalten seiner Zeit. Allein zu Goethe konnte er aufsehen. Grillparzer meinte vielmehr diese Insuffizienz in bezug auf die philosophische, auf die weltdeutende Erkenntnis, daß der einzelne Mensch nur eine einzige Möglichkeit in der Summe unendlich vieler Möglichkeiten sei, die das Wirkliche ausmachen. Nicht die Priorität des einzelnen, sondern die Priorität des Ganzen liegt dieser Auffassung zugrunde, in der das einzelne nun so unendlich klein erscheint. Darum sagt Grillparzer einmal in seinem Tagebuch: „Ich gebe mich gern minder, als ich bin.“ Hofmannsthal hat diese Bescheidenheit mit Recht als Ironie gedeutet, denn sie ist nur auf dem Hintergrund der Gesamtheit zu verstehen, auf die sich der einzelne ständig beziehen muß. Die Novelle beginnt ja auch damit, daß sich der einzelne aus einer großen Volksmenge bei einem Volksfest herauslöst. Man kann diesen einzelnen nur erkennen und beurteilen, wenn man die Folie der Allgemeinheit berücksichtigt — das war es. was .Grillparzer dem überspitzten Individualismus des deutschen Idealismus, etwq. bei Fichte, und dem klassischen Uberrnenschentum Goethes entgegenzuhalten hatte. Das war schlechthin eine eigene Denkweise, die sich in dem Satz Grillparzers ausdrückt: „Man kann die Berühmten nicht verstehen, wenn man die Obskuren nicht durchgefühlt hat.“ Hier haben wir wirklich ein konstitutives Element der österreichischen Literatur, das vom „armen Spielmann“ Grillparzers bis zu George Saikos Diener Joschko, der Figur jenes bedeutenden Beweisstücks einer österreichischen Literatur, des noch viel zuwenig bekannten Romans „Auf dem Floß“ (1954) reicht.

Zur Einzelerscheinung den größeren Rahmen hinzudenken — das ist im Grillparzerschen Sinne gedacht. Und dieser Rahmen ist das sich durch Jahrhunderte hinziehende Sterben der Monarchie, jener langwierige Prozeß, der etwas von der bedrückenden Stimmung der Apokalypse an sich hatte — endete er doch im apokalyptischen Geschehen des ersten Weltkrieges —, der aber dennoch — oder gerade deswegen — von einer sich um die Jahrhundertwende immer mehr steigernden Leistung österreichischer Kunst, Musik und Literatur getragen wurde. Jener unerhört einheitliche Vorgang, den wir mit Hermann Bahr, dem großen und heute in seiner vollen Bedeutung erst erkannten Wegweiser österreichischer Geistigkeit, schätzen, als „die Moderne“ ansprechen.

Diese Bewegung hat bildende Kunst, Musik und Literatur auf Wiener Boden zu einem einzigen harmonischen Ton zusammenklingen lassen: einem leidenschaftlichen Bekenntnis zum Menschen. Auch eine Wissenschaft fügte sich ihm harmonisch ein: die Psychologie. Freuds Entdeckung des Unterbewußten in seiner Psychoanalyse, Alfred Adlers und des Schweizers Carl Gustav Jung tiefenpsychologische Lehren sind hier zu nennen.

In der Literatur sind Enrica von Handel-Mazzetti, Hermann Bahr, Karl Schönherr, Arthur Schnitzler, Hugo von Hofmannsthal, Rainer Maria Rilke und Peter Altenberg bei aller Verschiedenheit in den literarischen Charakteren und Ausdrucksformen in ihrer Bemühung um ein neues Menschenbild einig, das aus den Bezügen auf ein Ganzes, auf eine Gesellschaft, auf die Menschheit wesentliche Gestalt gewinnt. Ob die Leitbilder und die Erkenntnisquellen nun Psychoanalyse oder Mythologie heißen, ob mehr das Zeitgebundene oder das Aufsuchen ewiggültiger, archaischer Urformen angestrebt wird — das ist letztlich gleichgültig. Nicht gleichgültig aber ist der Mensch. Auch die Musik sucht ihn, sucht seine Seele, etwa in den Symphonien Gustav Mahlers oder — bei kühner Zerstörung der Formen der Tonalität — in der Musik Arnold Schönbergs. Für die bildende Kunst wird der Mensch Mittelpunkt und Ziel. Die Bewegung der „Wiener Sezession“ wollte eine Baukunst, in der nicht mehr von der Fassade, sondern vom Menschen her gebaut wird. Die Malerei bemühte sich, angefangen vom Vorläufer Romako bis zu Klimt und Schiele, um das wirkliche Menschenbild hinter der Maske seines Äußeren.

Um 1910 kann man In der Entwicklung der Moderne eine Zäsur erkennen. Die gesamte Kunst rückt jetzt entschieden von der Wirklichkeit ab, getrieben von einem Mißtrauen an dieser Wirklichkeit und ihrer naturalistischen Abbildung durch die Kunst. Ist das wirklich, was uns unser Bewußtsein vorstellt? Ist die Abbildung dieser Wirklichkeit, die immerhin durch die Einbeziehung des Unbewußten eine tiefere Wirklichkeit ist, der eigentliche Sinn und Zweck der Kunst?

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