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Das Grundproblem der Mittelschule

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Die österreichische Mittelschule hat eine ehrwürdige Tradition und genoß bis zum Frühling 1938 internationales Ansehen. Der Grund hiefür war die klare Zielsetzung ihres Bildungsgedanke'ns und die hiedurch bedingte Stabilität des Unterrichtsbetriebes. Wenn wir diese hohe Leistungsfähigkeit wieder erreichen wollen, erscheint es geboten, daß wir uns neuerdings auf diese beiden Umstände besinnen, auf die Klarheit der Zielsetzung und auf die Notwendigkeit einer Organisation von Dauer. Im Augenblicke, wo wir die Fragen einer Neugestaltung unseres ganzen Erziehungssystems zu prüfen haben, wollen wir uns der Einsicht nicht verschließen, daß die Krise, die in den Jahren der geistigen Kasernierung besonders deutlich sich offenbarte, im Bereiche der Mittelschule schon bald nach 1900 a'cut geworden ist, ja daß wesentliche Voraussetzungen bis weit ins 18. Jahrhundert zurückreichen.

Die Idee der höheren Bildung ist in der Stunde geboren worden, da sich der abendländische Mensdi zum ersten Male seines eigenen schöpferischen Geistes, seiner Kultur bewußt wurde. Seit jener Stunde stehen Kultur und Bildung in fortgesetzer, enger Wechselbeziehung. Die Bildung des Menschen durch die Kultur und die Verwirklichung und der Aufstieg der Kultur durch die Bildung ist das Zentralproblem unseres geistigen Lebens. Der von den Griechen geformte Begriff der Kalokagathia, des Zugleich-Gut-und-Schönseins, das heißt der harmonischen Ausbildung aller Kräfte des Körpers und der Seele, ist das umfassendste pädagogiche Programm in der Geistesgeschichte des Abendlandes, die klarste Fassung des humanistischen Bildungsideals und damit der höheren Bildung überhaupt. Der in der Römerz.it entstehende Kanon der Sieben Freien Künste hat dieses Programm dem Material nach systematisiert, die Lehre des Christentums gab ihm die ethische und metaphysische Orientierung. Durch mehr als ein Jahrtausend standen die Generationen unter diesem guten Stern einer universalen Menschenbildung, universal im wahrsten Sinne des Wortes, weil sie nicht nur auf die Gesamtheit des Kulturgutes, sondern auch auf die Gesamtheit der menschlichen Kräfte und auf die Gesamtheit einer durch dieselbe geistige Tradition geeinten und durch den gemeinsamen christlichen .Glauben auf Gott bezogenen Menschheit gerichtet war.

Erst die Aufklärung sdiuf hier unheilvollen Wandel. Der neue Gott, die autonome Vernunft, umschlang nicht mehr von außen her den Kosmos, wie der Gott des Christentums, sondern durchdrang ihn von innen und zerlegte ihn fein säuberlich in seine Teile. Zum ersten Male erscheint die Gültigkeit des Bios theoretikos ernsthaft gefährdet. Der Mensch erhebt die Frage nach dem „praktischen“ Wert, der Nutzen steht vor dem Wahren, das Nützliche vor dem Guten, die ruhelose Anmaßung vor der bescheidenen Demut. Im Bildungsprogramm tritt an die Stelle des Universalismus das Spezialistentum. Mit dem Schlachtruf „res ante verba“ tritt die „realistische“ Bildungsidee auf den Plan und erhält durch den phantastischen Aufschwung der Naturwissenschaft und Technik ein immer bestechenderes Ansehen. Das Verhängnis ist, daß zugleich unter dem Eindruck des normativen Klassizismus seit Winckelmann und Goethe die humanistische Bildungsidee von sich aus den Gedanken des Universalismus aufgibt und immer mehr zu einer ästhetisch-wissenschaftlichen Liebhaberei sogenannter „gebildeter“ Kreise wird.

Infolge dieser Entwicklung stand schon der „Organisationsentwurf für die Gymnasien und Realschulen in Österreich“ vom Jahre 1849 unter einem ungünstigen Stern, insofern einerseits die Realschule, die ihrem Wesen nach eine mathematisch-technische Fachschule war und, trotz aller späteren Ausgleichsversuche, bis auf den heutigen Tag mehr weniger geblieben ist, als allgemeinbildende höhere Schule (Mittelschule) anerkannt wurde, andererseits das Gymnasium, obwohl es die extremen Auswüchse der Süvernschen Reform in Preußen vermied, sich doch den neuhumanistischen Bestrebungen nicht zu entziehen vermochte. Diese Halbheit im Grundsätzlichen führte während der folgenden Jahrzehnte zur Unsicherheit bei der Gestaltung der Schultypen. So wurde zunächst als Vermittlungstyp das „R e a 1-Gymnasiu m“ geschaffen, das schon in seinem Namen den Stempel der Verlegenheit trägt. Der Aufbruch der Geister nach dem ersten Weltkrieg brachte als neue Errungenschaft den Typus „Realgymnasium A, B und C“, und schließlich trat noch die „Einheitsschulbewegung“ auf den Plan, die, wohl aus dem an sich gesunden Bedürfnis nach einer Rückkehr zu ganzheitlicher Bildungsform geboren, jedoch teils durch das Eindringen parteipolitisdier Tendenzen entstellt, teils von Hälbfachleuten in die Öffentlichkeit posaunt, die Verwirrung nur noch vergrößerte. Erst allmählich setzte eine Periode der Besinnung ein und nach dem Reformgesetze von 1927, beziehungsweise 1935 baut sich das österreichische Mittelschulwesen in fünf Typen auf: Gymnasium, Realgymnasium, Realschule, dazu als besondere Mädchenschulen das Oberlyzeum und die Frauenoberschule. Beim Neubau der österreichischen Mittelschule wird man diese Gliederung nicht unbeachtet lassen können. Sie g ht allerdings von der Voraussetzung aus, daß es zwei grundsätzlich verschiedene Bildungsideen, nämlich eine humanistische und eine realistische, gibt. Es wird nidit gut möglich sein, eine wahrhafte Schulreform durchzuführen, ohne dieses Problem in seiner ganzen Tiefe aufzurollen. Mit der Aufstellung einer „Stundentafel“ wird nur ein sehr unbewanderter Laie das Ei des Kolumbus entdeckt zu haben glauben!

Die Aufgabe der Mittelschule ist eine zweifadie. Sie besteht erstens in der Heranbildung des Nachwuchses für die Hochschule, zum andern in der Schaffung einer möglichst breiten kulturtragenden Schicht der Bevölkerung unseres Landes auf dem Wege strenger Auslese. In beiden Fällen hat die Mittelschule auf die Ausbildung eines berufspraktischen Spezialistentums zugunsten einer soliden Allgemeinbildung zu ver-ziditen. Wir verstehen unter Allgemeinbildung in diesem Zusammenhang die Vereinigung der Grundtatsachen der historischen Entwicklung der abendländischen Kultur und der gesicherten Erkenntnisse der modernen Naturwissenschaft und Technik zu einem abgerundeten Weltbild.

Welche Wege stehen der Mittelschule für die Erreichung dieses Zieles zur Verfügung? Zunächst ist der Bildungsvorgang ohne Zweifel eine Angelegenheit des Stoffes. Es gilt, den Zögling mit den gegebenen Kulturwerten, ihren Voraussetzungen und gegenseitigen Beziehungen bekannt zu machen: wir sprechen von Unterricht. Dabei besteht ein grundlegender Unterschied, ob ich Mathematik in einer Handelssdiule etwa in der Form des kaufmännischen Rechnens betreibe oder in der Mittelschule als Konzentrationsfeld wissenschaftlich-erzieherischer Tätigkeit. Auch Englisch, Geographie, Deutsch, ja jeder beliebige Unterrichtsgegenstand wird in einer Fachschule unter dem Gesichtswinkel des realen Erfordernisses, in der Mittelschule dem der humanistischen Allgemeinbildung stehen müsen. Der Gegensatz „realistisch — humanistisch“ bezeichnet also den Unterschied von Fach- und Mittelschule. Nur sehr laienhafte Vorstellungen können ihn einer Typenbildung der höheren allgemeinbildenden Lehranstalten zugrunde legen. Sämtliche heute in der Mittelschule gelehrten Fächer sind Konzentrat i o n s f e 1 d e r didaktischer

Arbeit, hingeordnet auf das eine Ziel der universalen Menschenbildung des reinen Humanismus.

Hier ist freilich zu bedenken, daß alle verstandesmäßige Vermittlung oder Aneignung von kulturellem „Wissen“ hinfällig und unfruchtbar ist, wenn das Individuum zu den gewonnenen Inhalten seines Denkens nicht in ein bestimmtes Spannungsverhältnis tritt, das heißt wenn nicht bestimmte Dispositionen, psychische Kraftfelder geschaffen werden, innerhalb derer das bloße Wissen um die Kultur sich wie nach magnetischen Kraftlinien zu einer besonders strukturierten Ganzheit ordnet. Wir sprechen in diesem Falle von Erziehung. Es wäre Aufgabe einer neuen Erziehungslehre, diese Kraft: eider entsprechend den Hauptkategorien der Kultur: Religion, Kunst, Wissenschaft, näher zu erörtern. Für den Rahmen dieser Darlegung wäre eine so differenzierte Untersuchung zu weitläufig. Wir wollen uns hier mehr auf eine ganzheitliche Betrachtungsweise beschränken. Letzten Endes ist ja weder die menschliche Seele noch die menschliche Kultur ein Phänomen, dessen Sein sich nach Belieben aufspalten ließe. Als ein „I n d i-v i d u u m“, e i n „U n t e i 1 b a r e s“, tritt der Mensch der Kultur gegenüber. Also bringt er wohl auch Dispositionen mit, die gewissermaßen „allgemeinen“ Charakter haben. Ich bezeichne diese Dispositionen als Ehrfurcht und Besinnung.

Unter Ehrfurcht verstehe ich die bedingungslose Anerkennung der Überlegenheit des Geistes über die Materie. Ehrfurcht ist das Grundgefühl des Menschen gegenüber dem Göttlichen, sobald er einmal erkannt hat, daß der Geist Gotfes der Urgrund alles Seins ist. Ehrfurcht ist der Inbegriff aller Lehrer- und Erzieherautorität. Denn nicht das Gefühl der körperlichen Unterlegenheit oder materiellen Abhängigkeit, sondern die freiwillige Anerkennung des überlegenen Geistes gibt den Ausschlag dabei! Der Mangel an Ehrfurcht hat in unseren Tagen nicht nur ein bis dahin führendes Kulturvolk der Erde in eine noch unabsehbare Katastrophe gestürzt, sondern um ein Haar den Bestand der jahrtausendealten europäischen Kultur selber in Frage gestellt.

Mit Besinnung bezeichne ich die grundsätzliche Bejahung der organischen Entwicklung — Evolution — alseinzigerGarantin desmenschlichen Fortschrittes. Gewiß sind Revolutionen, also jähe Unterbrechungen im Leben der Völker — gleichgültig ob wir dabei an Politik. Wissensdiait. Kunst,

Religion oder Wirtschaft denken —, Tatsachen der Weltgeschichte und als — manchmal reinigende — Gewitter zu verstehen, nach denen oft ein um so strahlenderer Himmel sich über der Menschheit wölbte. Krieg und Revolution sind aber Instrumente in den Händen Gottes, und der Mensch soll nicht vermessen danach greifen. Auch dafür bietet uns das Erleben unserer eigenen Not einen überzeugenden Beweis. Es hat dem Deutschen nicht mehr genügt, ein Deutscher zu sein; er mußte die völkische Entwicklung von anderthalb Jahrtausenden aufgeben und wieder ein Germane werden! Der Sinn der Geschichte als einer fortschreitenden Offenbarung Gottes mußte geleugnet und an die Stelle der christlichen Heilslehre der primitive „Mythos“ von Blut und Boden gesetzt werden. Es mußte überhaupt alle Tradition fallen und an ihre Stelle der „Triumph des Willens“, das heißt der Willkürlichknt gesetzt werden. So hat die „ewige Revo- lution“ als Ausgeburt des „Geistes, der stets verneint“ in einem beispiellosen Chaos geendet.

Genug der grundsätzlichen Erwägungen! Ob die österreichische Mittelschule in der Organisation zu einem einheitlichen Typ gelangen wird oder sich als ein System mehrerer, klar geschiedener Schulformen nach dem Muster 1849 bis 1935 darstellen wird, ist heute schwer zu sagen und vielleicht nicht allein von theoretischen Erwägungen — und mögen sie noch so zwingend sein — abhängig. An einem Grundsatz müssen die verantwortlichen Erzieher und Lehrer aber unter allen Umständen resthalten: an dem engen Zusammenwirken von Erziehung und Unterricht im Sinne des Universalismus der humanistischen Bikiingsidee. Der Lehrer an der Mittelschule ist nicht Fachlehrer im Sinne der Berufsschulen, er ist in seinem Fach zugleich Vertreter jedes Faches — wenn schon nicht immer dem Stoffe nach, so doch in der Gesinnung und im gemeinsamen Streben nach dem obersten Ziel der Schaffung des europäischen Kulturmenschen. In dieser Auffassung liegt Klarheit und Konstanz, liegt die Lösung des Problems der höheren Bildung, liegt die Gewähr zu neuem Glanz und Ansäen der österreichischen Mittelschule.

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