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Und wieder die Schulreform

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In Umbruchzeiten ist es üblich geworden, von einem Neuaufbau der Schulen zu reden und ihn in irgendeiner Form zu verwirklichen. In der Gegenwart aber scheint er geradezu notwendig zu sein. Erregte Debatten haben sich in den Lehrerkreisen ebenso entsponnen wie in Beratungen an den verantwortlichen Stellen. Die Auseinandersetzung bewegt sich in zwei entgegengesetzten Richtungen, die in den beiden großen Parteien Österreichs ihren Rückhalt finden. Als umkämpfte Schule fällt in unseren Betrachtungskreis die Mittelschule, die die Vorbildung für die Universität darstellt und damit den hervorragendsten Anteil an der Erziehung des geistigen Arbeiters in Österreich hat. Bei allen Reformvorschlägen handelt es sich nicht nur darum, den nationalsozialistischen Geist aus der österreichischen Mittelschule zu entfernen, sondern um die ebenso grundlegende Frage, ob man wieder zum österreichischen Mittelschultyp der vornationalsozialistischen Zeit zurückkehren oder dafür einen neuen schaffen soll.

Entkleiden wir die einander gegenüberstehenden Vorschläge allen zeitbedingten Beiwerkes, so erblicken wir in neuer Abwandlung nichts anderes als die zwei seit dem Orgänisationsentwurf für österreichische Mittelschulen von Franz Exner, Hermann Boniz und Leo Graf Thun-Hohenstein schon 1849 angestrebten Bildungsideale, das humanistische und das realistische. Seit jener Zeit lagen die beiden Bildungsziele, die sich zunächst im achtjährigen Gymnasium und der 1870 geschaffenen siebenjährigen Realschule verkörperten, im Kampf miteinander. Den vermittelnden Ausgleich bildete das Realgymnasium der verschiedenen Formen, das durch seine Einführung des Lateinischen das Abschwenken aus dem Gymnasium in die realistische und den Wechsel aus der Realschule in die humanistische Richtung ermöglichte. Der Kampf geht schließlich zurück auf die Renaissance, die die Grundtypen unserer seit hundert Jahren bestehenden österreichischen Mittelschule schuf. Die Erneuerung der klassischen Sprachen hatte die Schaffung des humanistischen Gymnasiums mit Latein und Griechisch zur

Folge. Der Aufschwung der Naturwissenschaften und das Aufstreben des höheren Bürgertums führte zur Realschule, in die durch den Einfluß von Frankreich und England her die modernen Fremdsprachen aufgenommen wurden. Solange Gymnasium-Universität und Realschule-Technik getrennt einhergingen, kam es zu keiner Reiung. Im, Zeitalter der Technik begann der Angriff auf das Gymnasium und die humanistische Idee selbst, während die Realschule durch ihr technisch-praktisches Ziel keinen Angriffen ausgesetzt war.

' Gegen das Gymnasium, in dessen Mittelpunkt die klassizistisch-humanistische Bildungsidee der Vorbildlichkeit des Griechentums stand, nahmen Stellung: der Realismus, der die Antike als überwunden erklärte, der historische Relativismus, der die Möglichkeit bestreitet, daß eine Epoche Vorbild einer anderen sein könne, und der deutsche Nationalismus, der die Vorbildlichkeit einer fremden Kultur nicht anerkannte. Dieser Einwand war von vornherein hinfällig, weil Humanismus nicht Weltanschauung, sondern formale Ausbildung und Persönlich-keitsformunig bedeutete. Denn das Verhältnis des Griechentums zum Abendlande ist kein beliebiges. Es hat die Grundformen der Bildung geschaffen, die immer wieder den Grund zu Auseinandersetzungen abgeben, wenn ein Volk darangeht, seine Kultur auszugestalten. Griechische Geistesentwicklung ist die erste Prägung europäischen Denkens, und das humanistische Problem ist immer wieder vorhanden. Denn die geschichtliche Grundlage kann nicht als etwas Totes übernommen werden, sondern ist etwas, mit dem man sich immer wieder auseinandersetzen muß.

Von hier aus eröffnet sich der Blick auf das humanistische und das realistische Bildungsziel auch der Gegenwart: sie werden als geistes- und als naturwissenschaftliche Disziplinen bezeichnet. Tatsächlich aber liegen nur zwei verschiedene Betrachtungsweisen vor. Es ist die Nebeneinanderstellung von Mensch und Ding, also der betrachtenden Stoffe, aber nicht der Wissenschaft über sie. Die Naturwissenschaften gehen von den Tatbeständen aus and suchen nach Gesetzmäßigkeiten, sie zeigen Theorien auf, die nichts mehr mit der Natur zu tun haben, und schreiten über Physik, Chemie, Zoologie, Botanik and Anthropologie zur Soziologie und anderen Teilgebieten der Kultur vor. Die Geisteswissenschaften gehen vom Menschen aus und kommen über die Entwicklung des Menschen zur Kultur als Ganzes. In dieser Zone treffen realistische und humanistische Betrachtungsweisen zusammen.

Mit diesem geschichtlichen Rückblick ist auch die Frage der Schulreform beantwortet. Nicht das realistische Schulprinzip allein ist der Weg aus der Schule des Dritten Reiches. Die Hinausschiebung der Fremdsprachen auf einen möglichst späten Zeitpunkt, um die Berufsentscheidung hinauszuzögern und gleichzeitig den Obertritt aus der Hauptschule in die Mittelschule (Oberstufe) möglich: zu machen, mit anderen Worten, die Unterstufe der Mittelschule gleichzustellen den vier Klassen der Hauptschule, ist ein starkes realistisches Moment, das der österreichischen Mittelschule widerspricht. Eine Zweizügigkeit in den letzten Klassen der Mittelschule, in dem der eine Klassenzug sprachlich, der andere mathematisch-naturwissenschaftlich gerichtet ist, scheint der möglichst weit hinausgezögerten Berufsentscheidung viel günstiger zu sein. Denn nicht mit 12 oder 14 Jahren entscheidet sich der Schüler zum endgültigen Beruf, sondern frühestens mit 16 oder 17. Wenn der sozialistische Reformvorschlag auch den Wert der lateinischen Sprache anerkennt, so wird diese positive Einstellung doch wieder eingeschränkt durch den so spät angesetzten Beginn des Lateinunterrichtes. Griechisch völlig auszuschalten, vernichtet das humanistische Bildungsideal für immer. Wir sind uns dessen bewußt, daß praktische Ausbildung besonders notwendig int, meinen aber doch, daß dazu weit eher die Hauptschule und die .auf ihr aufbauenden Fachschulen bestimmt sind, nicht aber die Mittelschule.

An die Schulreform muß mit Verantwortungsgefühl und tiefgehendem Durchdenken des Problems herangegangen werden. Unsere Jugend ist in den letzten Jahrzehnten zu vielen Versuchen ausgesetzt gewesen. Nichts aber ist schlechter, als die Jugend zu Versuchsobjekten zu machen. Der neue Lehr-plan der Mittelschulen muß eine bleibende Einrichtung sein, die auch in zwanzig Jahren noch keiner Änderung bedarf. Auf dieser Gleichmäßigkeit beruhte die Gediegenheit österreichischer Mittelschulbildung zu einem nicht unwesentlichen Teil. So groß als nur je .ist der Beruf. Wir brauchen verantwortungsbewußte Menschen mit großem Können an der Spitze von Staat, Wirtschaft und geistigem, Schaff en.

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