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Eintopf namens Gesamtschule

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Angesichts der engagierten gesellschaftspolitischen Auseinandersetzungen rund um die sozialistisch motivierte Gesamtschule (Einheitsschule) ist es ganz lehrreich, einmal die historischen Spuren dieser Idee zurückzuverfol-gen. Bereits im Reichsvolksschulgesetz 1869 gab es Bestrebungen in Richtung Einheitlichkeit, Öffentlichkeit und Allgemeinheit der Schulen. Damals wurde diesen Forderungen gemäß die allgemeine achtklassige Volksschule eingerichtet.

Im Gefolge der Industrialisierung und der Organisierung der Arbeiterschaft kam zu den Forderungen nach sozialer Gerechtigkeit auch jene nach Gerechtigkeit in der Bildung hinzu. Während in den siebziger Jahren die Anhänger der Gesamtschule nur zu gerne die Entwicklung und die Fortschritte übersehen, die uns von den ersten Jahrzehnten dieses Jahrhunderts trennen, und daneben von all den Fehlentwicklungen in den Gesamt-schuULändern wie Schweden oder Hessen erst recht nichts hören wollen, hatte die Gesamtschulidee im Kontext der Bildungslandschaft vor vielleicht 50 oder mehr Jahren eine ganz andere Position: Kann heute in der Gesamtschule ein weiterer Schritt zur Standardisierung und Uniformierung der Menschen gesehen werden, sah man sie früher als Mittel, das Bildungsmonopol privilegierter Schichten zu brechen.

In der Person des legendären Otto Glöckel fanden die Kinder der Jahrhundertwende ihren wärmsten Fürsprecher. Der Sozialdemokrat Glofc-kel, der selbst einige Jahre Lehrer war und aus einem reichen Erfahrungsschatz schöpfen konnte, erlebte in der täglichen Begegnung mit der Not der Arbeiterschaft die Mißstände an den Schulen und widmete sein Leben dem Aufbau der „neuen Schule“, dem „Tor der Zukunft“.

Jn seinen Schulprogrammen fordetet er das Verbot der Kinderarbeit, die Unentgeltlichkeit des Unterrichts und der Lernbehelfe,

Schaffung und Erhaltung von Kindergärten über den Hort bis zu sämtlichen Schultypen durch den Staat. Die Gleichstellung der Geschlechter in der Ausbildung geht auf Otto Glöckel zurück, ebenso wie der kindgerechte Unterricht, die aktive Teilnahme des Schülers am Unterricht und die Entfaltung der schöpferischen Kräfte des Kindes.

Schon längst und teilweise sogar vor der Jahrhundertwende haben sich Psychologen und Pädagogen -allerdings vorwiegend außerhalb Österreichs - mit Vehemenz gegen die damalige „alte“ Schule gestellt und diese als „seelenmordende Drill- und geisttötende Lernschule“ qualifiziert und ihre grundsätzliche Umgestaltung gefordert.

Entsprechend seinem politischen und ideologischen Standort forderte Glöckel die „vollständige Trennung von Schule und Kirche“ sowie eine neu einzuführende ,Moral- und Rechtskunde“. Die Annahme liegt nahe, daß Glöckel unter Ausschaltung christlich-sozialer Werte eine Erziehung und Schulung in Richtung eines sozialistischen Weltbildes vorschwebte. Zwar trat er für die „vollkommene Freiheit der Methode“ ein, hinsichtlich Pluralität und Freiheit der Lehre aber wollte er diese doch eher auf sozialdemokratische Sicht einengen. Auf dem Wege von Kompromissen zwischen der Sozialdemokratie und dem Bürgertum kam es zur schrittweisen Verwirklichung der von beiden Seiten angestrebten Reform mit dem Ziel einer sozialen kindgerechten Schule unter Abstellung jeglicher Art von Zwang zur Teilnahme an religiösen Übungen“. Der Religionsunterricht wurde als gleichgestellter Gegenstand weitergeführt und die Lehrfreiheit einigermaßen sichergestellt.

Die Gesellschaftsstruktur in der

Zeit der Ersten Republik u>ar noch immer vielfach gekennzeichnet von privilegierten Schichten, deren Vertreter die führenden Positionen in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft einnahmen. Otto Glöckel verstand das damalige „alte“ Schulsystem „als Stabilisierungsfaktor der privilegierten Klasse“. Seine besonderen Anliegen waren demzufolge weitergehende Demokratisierung der Schule -Einbindung der Lehrer, Eltern und selbst Schüler in die behördliche Verwaltung - sowie die Einrichtung der Einheitsschule bis zum 14. Lebensjahr.

Glöckel empfand die Mannigfaltigkeit des österreichischen Schulwesens als „verwirrend“ und war der Überzeugung, daß angesichts der völligen Verschiedenheit der Bildungswege die geforderte Entscheidung zugunsten oder Ungunsten höherer Schulen vor dem 14. Lebensjahr für die meisten der Kinder als verfrüht zu betrachten war. Die Entscheidung über den Zugang zur höheren BiU

dung sollte erst nach dem 14. Lebensjahr erfolgen, bis dahin alle Kinder die sogenannte „Einheitsschule“ besuchen. Damit wollte Glöckel gerechteren Zugang zum Bildungserwerb schaffen und das Bildungsprivileg der damaligen sozialen und wirtschaftlichen Oberschichte abbauen.

Jm „Linzer Programm“ der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (1926) finden wir demnach die Forderung nach der „Einheitsschule“: vierjährige Grundschule und anschließend allgemeine Mittelschule als ebenfalls vierjährige Pflichtschule. Glöckels Schulreform vollzog sich aber schon vorher teilweise auf dem Erlaßweg. Neben der Aufhebung der auf das Kaiserhaus bezugnehmenden Bestimmungen der Schulgesetze und Verordnungen war es wohl der Erlaß vom 4. Juni 1919, der einen ersten Ansatz zu der heute in Diskussion stehenden „Gesamtschule“ darstellt. Dieser Erlaß betraf die Ermächtigung zur Errichtung von Versuchsklassen und Versuchsschulen. In seiner Folge beschloß der Wiener Stadtschulrat am 1. Juni 1922 einstimmig den Schulversuch Allgemeine Mittelschule“, der an sechs Wiener Bürgerschulen mit je vier Klassen eröffnet wurde.

Unter der christlich-sozialen Regierung, der ein sozialdemokratischer Wiener Stadtschulrat unter Otto Glöckel gegenüberstand, wurde 1927 das Haupt- und Mittelschulgesetz verabschiedet: Darin war einerseits vorgesehen, fähigen Schülern den Ubertritt von der Hauptschule in die Mittelschule zu ermöglichen, anderseits wurde die Bewilligung gegeben, unter bestimmten Umständen die Hauptschule als Erziehungsgemeinschaft zu gestalten. Letzteres sollte in einzelnen Lehrgegenständen durch gemeinsamen Unterricht der Schüler

beider Klassenzüge und „durch tunlichste Verwendung derselben Lehrer in beiden Klassenzügen“ erreicht werden. Hierin zeigen sich bereits erste legistische Schritte in Richtung auf eine weitere Vereinheitlichung der Schule: Die Hauptschule in teilweiser Integration der beiden Züge sowie die wechselseitige Übertrittsmöglichkeit zwischen Haupt- und Mittelschule.

Jn der Durchführungsverordnung zum Hauptschulgesetz vom 5. Juni 1928 wurden schließlich sogar die neuen Lehrpläne für die Hauptschule und die ersten vier Klassen der Mittelschule „wortident“ abgefaßt. Später wurde die Wortidentität auf eine Sachidentität der Lehrpläne reduziert. Anläßlich der neuerlichen Umarbeitung griff man allerdings im Jahre 1972 diese Frage wieder auf und ist seither um eine Wiederherstellung der seinerzeitigen Wortidentität bemüht.

Der derzeit laufende Schulversuch integrierte Gesamtschule“, der auf Grund einer gesetzlichen Regelung in der 4. Schulorganisationsnovelle -Schulversuche zur Schulreform - in den Jahren 1971172 installiert wurde, ist vorläufig das letzte Glied einer langen Kette von Maßnahmen im Kampf um die Einheitsschule.

Seit dem Reichsvolksschulgesetz von 1869 findet sich sich somit durchgehend die Leitidee einer Vereinheitlichung des Schulsystems: von der achtjährigen einheitlichen Volksschule spannt sich ein Bogen zur einheitlichen vierjährigen Volksschule mit anschließender einheitlicher und ebenfalls vierjähriger Gesamtschule, wobei Hauptschule und Unterstufe der allgemeinbildenden höheren Schule zusammengefaßt werden sollten. Gleiche Ausbildung - gleiche Lebenschancen oder-wenn man so will - Eingriff in die Struktur der Gesellschaft unter dem Motto: Durch Bildung zurück zu einer Gesellschaft von „Gleichgeborenen“

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