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Tod fürs Gymnasium?

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Obwohl das Gymnasium — wie die von Jahr zu Jahr zunehmenden Schülerzahlen schlüssig beweisen — schon lange nicht mehr allein einer privilegierten Bevölkerungsschicht vorbehalten ist, scheint manchen Bildungsreformern diese traditionsreiche Anstaltsform doch ein Dorn im weitblickenden Auge zu sein. Von einer Bastion der „konservativen Reaktion“, wie das Gymnasium von klassenkampfbewußten und sich progressiv gebärdenden Bildungsaposteln des Jahres 1972 noch genannt wird, ist weit und breit nichts zu sehen: Dort sitzt der Sohn des Metalldrehers neben dem des Betriebsdirektors und die Tochter des Landwirtes neben der des Sektionschefs.

Seit dem vergangenen Jahr wird nun am österreichischen Schulsystem gebastelt: Zweck ständiger Versuche soll es sein, an Hand von Modellen Formen für die Schule von morgen zu finden. All das, was bisher an theoretischen Modellen — inklusive Gesamtschule — entwickelt worden ist, soll nun in der Praxis Bewährung finden.

Aber der Stadtschulrat für Wien, dem der Abgeordnete Schnell (SPÖ) als Präsident vorsteht, hat vergangene Woche einen Antrag abgelehnt, nach dem im Schuljahr 1972/73 auch mit achtstufigen Gymnasien Schulversuche vorzunehmen wären. Obwohl zwei Drittel der Wiener Gymnasiallehrer solche Versuche zur Verbesserung der „Mittelschulen“ verlangen, hat eine absolute sozialistische Fraktionsmehrheit ein abschlägiges Machtwort gesprochen. Und die Lehrkörpervertreter mußten resignieren und murrend beigeben: Sie sehen in dieser Ablehnung einen gezielten Schlag gegen das VoHgymnasium.

Wer das sozialistische Schulprogramm in seiner Absicht kennt, sieht diesen Schritt der Stadtschulrats-mehrheit nicht von ungefähr kommen. Im Gegenteil: Der SPÖ paßt die Langform des Gymnasiums — also acht Schulstufen — nicht ins Konzept. Sie sieht vielmehr die Gesamtschule der Zehn- bis Vierzehnjährigen als Nonplusultra an. Mit anderen Worten: Hauptschüler und Untermittelschüler werden gemeinsam in einer „Gesamtschule“ unterrichtet und damit sollen noch bestehende „Bildungsprivilegien“ geschleift werden.

Wie in so vielen Fällen scheint auch hier der Zweck die Mittel zu heiligen. Was liegt näher, als das mißliebige Gymnasium so zu behandeln, daß jeder weitere Schulversuch überflüssig wird?

Das geschieht derzeit — noch — im Land rund um Wien, in Niederösterreich: Mit einer ersten Klasse des Gymnasiums in Tulln und einer ersten Klasse der Hauptschule in Korneuburg wird ein vergleichender Test als Schulversuch durchgeführt. In der ersten Klasse des Gymnasiums werden 36 Schüler „gesammelt“; es sind nicht die besten, weil diese nämlich in den ersten Klassen sitzen, die nicht „verglichen“ werden. Diese Klasse wird von Sondervertragslehrern unterrichtet, teilweise also jungen Studenten, die ihr Studium noch nicht abgeschlossen haben. In der ersten Klasse der Hauptschule hingegen sammelt man die 20 besten Volksschulabgänger des Jahrganges. Sie werden von hochqualifizierten Lehrkräften, die sich freiwillig für Schulversuche zur Verfügung gestellt haben und wohlvorbereitet sind, unterrichtet. Zusätzlich werden den Hauptschülern in den Hauptgegenständen wöchentlich zwei Förderstunden gegeben, was am Gymnasium allein aus organisatorischen Gründen nicht möglich ist.

Diese beiden Klassen werden nun durch gleichlautende Tests „verglichen“. Das Ergebnis solcher Versuche kann jeder vorahnen, und der Beweis, daß das Gymnasium „ohnehin zu nichts gut“ ist und Gymnasiasten wie Hauptschüler gleichbegabt — ja: die Hauptschüler sogar besser — sind, wird überzeugend erbracht werden. Fazit: Wir haben doch schon immer gesagt, daß das Heil unseres Bildungssystems in der Gesamtschule liegt...

Die beiden Beispiele sind symptomatisch für eine Absicht, die darauf aus ist, das Gymnasium so schnell wie möglich in die Vergangenheit zu schicken. Von „wissenschaftlicher Kontrolle“ im Zusammenhang mit den Schulversuchen ist dabei nichts zu merken. Im Gegenteil: Es handelt sich um eine deutliche und grobe Manipulation, im ersten Fall des Willens und im zweiten der Umstände.

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