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Die Inkonsequenz der Gesamtschule

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Die Forderung nach der Integrierten und Differenzierten Gesamtschule, welche besonders die sozialistische Pflichtschullehrer-Organisation als zentrales Anliegen der Schulreform empfindet, basiert, abgesehen von standespolitischen Überlegungen, auf der Annahme der prinzipiellen Begabungsgleichheit. Den sozialistischen Lehrern geht es, sagen sie, in erster Linie um die Förderung, nicht um die Selektierung. Sie wollen nicht dazu beitragen, die Klassengesellschaft zu verewigen.

Nur im ersten Augenblick scheint die Integrierte und Differenzierte Gesamtschule sozialistischen Grundsätzen zu entsprechen. Bei einer genaueren Analyse tritt die Inkonsequenz auf zwei Ebenen in Erscheinung: Das Förderungsprinzip wird durch die Leistungsgruppen paralysiert. In den formunter-richtlichen Fächern, die für den späteren Lebensweg viel entscheidender sind als die sachunterichtli-chen, werden die leistungsmäßig heterogenen Klassen zugunsten homogener Gruppen aufgespalten. Das dient nicht der Solidarität der Schüler, sondern erhöht den Konkurrenzkampf und steigert den Leistungsdruck, statt ihn zu beseitigen.

Die Bezeichnung „Leistung“ und „Leistungsdruck“ im Zusammenhang mit Schulaktivitäten sind allgemein üblich, aber eigentlich fehl am Platz. Unter Leistung sollte man wohl richtiger eine Tätigkeit verstehen, die der Gesellschaft zugute kommt, also produktive Arbeit, nicht aber einen individuellen Lernerfolg ...

Noch inkonsequenter als die Differenzierung in Leistungsgruppen ist die Beibehaltung des elitären Systems der Zulassung innerhalb, unserer egalitären Gesellschaft. Der Unterschied zwischen Gesamtschule und Gymnasium besteht ja lediglich darin, wann die Entscheidung fällt, ob der junge Mensch später einmal der arbeitenden, dienenden, sich mit untergeordneten Positionen begnügenden Gesellschaftsschicht zugehören soll, oder ob er für Führungsaufgaben bestimmt wird: im ersten Fäll, wenn er 14, im zweiten schon, wenn er 10 Jahre alt ist. Auch die Gesamtschule ändert nichts an der Trennung der Jugend in einen arbeitenden und einen studierenden Teil. Die berühmten Brücken und Übergänge von der Berufsschule zu einer höheren Schule, wie sie etwa die 5. Schulorganisations-gesetznovelle geschaffen hat, haben, um es milde auszudrücken, eher theoretischen Charakter. Hart formuliert, könnte man sagen, sie seien eine Augenauswischerei. Sie werden ebensowenig zum Tragen kommen wie das Recht der Hauptschüler des A-Zuges, in einen adäquaten Jahrgang des Realgymnasiums überzutreten. Das Oberstufen-Realgymnasium leitet zwar zum akademischen Studium über, funktioniert aber auch ohne Gesamtschule schon jetzt. Das Modell Gesamtschule entbehrt daher des revolutionären Inhalts.

Das Modell Gesamtschule leidet noch an einer dritten Inkonsequenz. Es kann nur den Schein einer sozialen Integration, also den Schein einer klassenlosen Gesellschaft erwecken, es vermag sie aber nicht wirklich in die Schulstube zu zaubern. Die Schule führt kein Eigenleben, sie ist Teil der Gesellschaft und kann diese durch ihre Organisation nicht verändern. Das Umgekehrte ist eher der Fall. Sollte es den Vorkämpfern der klassenlosen Gesellschaft gelingen, eine solche aufzubauen, würden unterschiedliche Schultypen keine Gefahr für die Klassenlosigkeit bedeuten. In unserer Klassengesellschaft wird auch eine Gesamtschule, die noch dazu bei den Vierzehnjährigen endet, die gesellschaftliche Differenzierung nicht verhindern. Sie wird sich übrigens schon in den informellen Schülergemeinschaften bemerkbar machen.

Mit all diesen Bedenken ist nichts gegen die Idee der Differenzierten und Integrierten Gesamtschule ausgesagt. Wahrscheinlich kann sie ebensogut, ja sogar besser funktionieren als unsere Hauptschule mit A- und B-Zug, und sie kann zu den Unterstufen des Gymnasiums eine echte Konkurrenz bilden. Doch das Bekenntnis zu diesem Modell zum Prüfstein der Progressivität und demokratischen Gesinnung zu erheben, entbehrt jeder Berechtigung.

Da sich eine Zweidrittelmehrheit für den Gedanken offensichtlich nicht gewinnen läßt, ist es klüger, Demokratisierimg dort zu versuchen, wo sie ohne aussichtslosen Kampf zu verwirklichen ist. Das setzt allerdings eine Abkehr von der maria-theresianischen Staatsrai-son voraus: Die Schule sei ein Poli-tikum, sagte die Kaiserin. Das gilt auch noch heute. Aber der Zentralismus der absolutistischen Regierungen, die in regionalen Differenzierungen eine Gefahr für Ruhe und Ordnung witterten, könnte allmählich abgelegt werden.

Die Integrierte und Differenzierte Gesamtschule zu oktroyieren, ist, wie erwähnt, aus Gründen der Gesetzeslage unmöglich. Überdies wird sie von einem großen Teil der Bevölkerung nicht gewünscht. Wo es um die Neuerrichtung von Stätten höherer Bildung ging, haben sich die Aktivisten nirgends um eine Gesamtschule bemüht, sondern um ein „echtes“ Gymnasium oder Realgymnasium - auch dort, wo Sozialisten die Proponentengruppen anführten.

(Auszug aus: Bildungspolitik jenseits der Standesinteressen, Europaverlag 1978)

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