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„Alles oder nichts” wäre falsche Politik!

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FURCHE: Herr Minister, wir stehen an der Schwelle zu einem neuen Jahrzehnt. Läßt sich bereits eine bildungspolitische Bilanz der siebziger Jahre und ein konkreter Aufgabenkatalog für die achtziger Jahre zusammenfassen?

SINOWATZ: Wenn man die Bildungspolitik der siebziger Jahre in Erinnerung ruft, muß man auch an die Schwierigkeiten der sechziger Jahre denken. Nach langen Verhandlungen ist es zu den Schulgesetzen von 1962 gekommen, ein großes und ein gutes Schulgesetzwerk, aber es kamen große Schwierigkeiten bei der Realisierung der Schulgesetze, siehe 13. Schuljahr, das Volksbegehren und der Rücktritt des Ministers Piffl-Perčevič. Es kam zur Gründung der Schųlreformkommission 1969, die heuer zehn Jahre alt ist.

Ich glaube, daß es wesentlich gewesen ist, daß es in den siebziger Jahren zu einer Teilung des Ministeriums gekommen ist, weil damit weitaus mehr politische Kraft hinter diese Aufgabengebiete gestellt werden konnte, zweitens, daß wir auch in der bildungspolitischen Strategie davon ausgegangen sind, daß wir in Österreich im Bereich der Schulpolitik die Zwei-Drittel-Mehrheit im Parlament nicht auffassen dürfen als eine unübersteigbare Barriere, sondern als eine Aufforderung, zu einem gemeinsamen Weg zu finden.

Drittens: daß wir auch tatsächlich eine finanzielle Priorität in der Bundesregierung für schulpolitische Maßnahmen eingeräumt bekamen. Das Ergebnis - quantitativ: Beseitigung des Lehrermangels in den siebziger Jahren, Schulbau (wir haben 170 höhere Schulen gebaut und damit ein hohes Maß an regionaler Chancengleichheit bekommen). Und wir haben mit den sozioökonomi- schen Maßnahmen - Schülerfreifahrten, Schüler- und Heimbeihilfen, kostenlose Schulbücher, Schülerversicherung, Wegfall der Prüfungstaxen - auch ökonomisch bessere Vorbedingungen für mehr Chancengleichheit geschaffen.

Viertens ist auch im Qualitativen sehr Wesentliches geschehen. Das heißt, es sind sehr viele Reformmaßnahmen gemeinsam in die Wege geleitet worden, und das sicherlich dadurch, weil es möglich gewesen ist, in den beiden großen politischen Lagern eine sachliche Basis für Gespräche zu finden.

FURCHE: Wenn Sie sagen, es war eine Zeit der Reformen - sind jetzt diese Reformen zu einem Abschluß gekommen? Die Schulversuche sind ja zum Teil sehr umstritten. Ist jetzt geplant, diese Schulversuche uneingeschränkt weiterlaufen zu lassen, sie einzustellen oder sie in vermindertem Umfang weiterzuführen?

SINOWATZ: Das ist auch die Frage im Hinblick auf die achtziger Jahre. Dazu sei in Erinnerung gerufen, daß diese Schulversuche faktisch im Auftrag der Schulreformkommission von allen politisch relevanten Gruppierungen gestartet worden sind, und daß wir in Österreich ein sehr klar umrissenes Schulversuchspro- gramm entwickelt haben.

Diese Schulversuche haben sich bewährt, es sind ja zum Beispiel die sechssemestrige Hauptschullehrerausbildung und die Schulversuche im Bereich der Schulen mit sportlichem Schwerpunkt in das Regelschulwesen übernommen worden. Wir bereiten jetzt im Parlament eine sechste Schulorganisationsgesetznovelle vor - die fremdsprachige Vorschulung und die Schulversuche, die im Bereich des Polytechnischen Lehrganges gemacht worden sind, die ja überhaupt nicht mehr umstritten sind, werden in das Regelschulwesen übergehen.

Sicher wird noch einige Zeit notwendig sein, die Schulversuche in der Oberstufe der AHS weiterzuführen, und dann kommt der Bereich der Schule der 10-14jährigen, der sicher am meisten umstritten ist, aber auch hier muß gesagt werden, daß die Schulversuche an sich und die Ergebnisse hervorragend sind und daß es jetzt darauf ankommt, einen politischen Weg zu finden, um diese Ergebnisse zu nützen.

FURCHE: Will man bei der Schulreform eine pluralistische Lösung, also möglichst jeder Familie die Schulform anbieten, die sie eben für ihre Kinder haben will? Oder werden jene Gruppen in Ihrer Partei ‘sich durchsetzen, die fordern, möglichst bald die Gesamtschule und die Ganztagsschule einheitlich einzuführen? Sind Sie persönlich eher für eine pluralistische Lösung oder für eine von oben dekretierte Einheitsregelung?

SINOWATZ: Man muß der Wahrheit die Ehre geben und sagen: Während die einen die Gesamtschule fordern und die Ganztagsschule, gibt es andere, die die Tagesheimschule fordern und die ausschließliche Beibehaltung der Unterstufe der AHS. Ich glaube, daß eine Politik, die versucht, gemeinsame Wege zu finden, auch bemüht sein muß und in der Lage sein muß, zu erreichen, daß politi- sehe Standpunkte geäußert werden.

Und es kann keine dramatischen Ergebnisse geben, denn gerade die Zwei-Drittel-Mehrheit erfordert eben einen Konsens, aber darüber hinaus, und das möchte ich betonen, auch die Anerkennung, daß es sich hier um einen sehr sensiblen Bereich in der Politik handelt und daß daher sehr weitgehend die Eltern und die Betroffenen zu einer Übereinstimmung finden müssen.

Es war ja bisher möglich. Falsch wäre eine Politik: Alles oder nichts - und das gilt für jeden.

FURCHE: Sie meinen also, es ist durchaus möglich, daß man nicht sagt: Entweder oder, sondern: Sowohl als auch?

SINOWATZ: Ich habe immer wieder gesagt und kann es nur wiederholen: Kein Kind in Österreich wird eine Ganztagsschule oder eine Tagesheimschule besuchen müssen, dessen Eltern das nicht haben wollen, aber anderseits werden wir uns bemühen müssen, daß ein immer wieder geäußerter Wunsch nach solchen Ganztagsformen in der Schule auch berücksichtigt wird und daß Angebote geschaffen werden, allerdings alternative Angebote, damit sich die Eltern entscheiden können, was sie haben wollen.

FURCHE: Heute ist es für Pflichtschullehrer in bestimmten Landesteilen schwierig, eine Anstellung zu bekommen. Wäre es nicht eine Lösung, die heftig geforderte Senkung der Klassenschülerhöchstzahlen durchzuführen?

SINOWATZ: Wir haben heute, obwohl die Schülerzahl insgesamt seit 1970 nicht gestiegen ist, etwa 25.000 Lehrer mehr im Schuldienst. Das heißt also, daß auf einen Lehrer heute weitaus weniger Schüler kommen als im Jahr 1970, daß also die Klassenschülerzahlen ohne gesetzliche Veränderung schon sehr wesentlich gesenkt worden sind. Jetzt geht es darum, daß wir auch im Gesetz einen Weg finden.

Bis dahin wird der Dienstpostenplan sehr flexibel und großzügig behandelt. Wenn man von einigen Regionen absieht, war es bisher möglich, die Lehrer unterzubringen.

Nur eins muß gesagt werden. Wir geben jedem die Möglichkeit, diesen Beruf zu erlernen, aber wir sagen seit einigen Jahren, daß damit zu rechnen ist, daß der Bedarf an Pflichtschullehrern sinken wird. Es dauert einige Zeit, bis sich Angebot und Nachfrage wieder einpendeln.

FURCHE: Eine Frage zur Situation des Schülers in der Schule: Man hört immer wieder, die Selbstmordrate, der Drogenkonsum unter Schülern seien im Steigen, die Schüler klagen über Überforderung. Muß man da nicht den Eindruck gewinnen, daß die Schule den Schüler zu wenig seelisch betreut?

SINOWATZ: Ich glaube, man muß sich einmal von Schlagworten freimachen. Die Selbstmordrate steigt an sich nicht. Man muß auch immer im Einzelfall überprüfen, ob am Selbstmord eines jungen Menschen die Schule schuld ist oder ob es nicht andere Einflüsse in der Gesellschaft gibt, die hier mit einer Rolle spielen. Was die Drogensucht in Österreich betrifft, so haben wir in Österreich weitaus bessere Verhältnisse als das in anderen europäischen Ländern der Fall ist. Aber das darf uns nicht hindern, daß wir alle diese Probleme sehr genau verfolgen.

Darüber hinaus aber, und das halte ich für besonders wichtig, sind ja rille unsere Bemühungen im Hinblick auf die Weiterentwicklung des Schulwesens darauf ausgelegt, daß es ermöglicht wird, eine Harmonisierung zu finden, zwischen dem notwendigen Leistungsanspruch in der Schule und der Möglichkeit, diese Leistung auch zu erbringen. Eine Schule ohne Leistung gibt es nicht, und eine gewisse Herausforderung wird immer da sein müssen. Es ist unsere Aufgabe zu trachten, daß diese Leistung aus der Freude an der Leistung heraus erbracht werden kann und daß diese Leistung, die erbracht werden muß, auch tatsächlich übereinstimmt mit der Leistungsfähigkeit des Schülers. Und deswegen machen wir die Schulversuche.

FURCHE: Zur Situation des Lehrers: Sicher kann man die Autorität eines Lehrers nicht nur mittels Gesetz hersteilen, aber sollte man sie nicht mehr abstützen als dies derzeit der Fall ist? Wird der Lehrer nicht vom Gesetz, vom Unterrichtsministerium heute oft im Stich gelassen?

SINOWATZ: Das glaube ich nicht. Wir haben versucht, die Arbeit des Lehrers von der materiellen Seite her zu erleichtern. Wir haben die Wochenstundenzahl vermindert. Der Umstand, daß immer mehr Lehrer in die Schulen kommen, ermöglicht ja auch in den Schulen eine bessere Organisation des Unterrichts. Unsere Schulen sind heute weitaus besser eingerichtet als früher.

Aber ich gebe gerne zu, daß der Beruf des Lehrers ein anstrengender Beruf ist, ein schwieriger Beruf, und alle die, die glauben, daß das nicht der Fall ist, täuschen sich. Ich gebe auch gerne zu, daß wir in einer Zeit leben, in der die Gesellschaft ein bißchen zuviel den Standpunkt vertritt, daß alles das, was sie nicht machen möchte, an die Schule delegiert werden soll. Das geht auch nicht. Die erste Instanz der Erziehung der Kinder ist die Familie, und dort muß die Grundlage dafür geschaffen werden.

Mit Unterrichtsminister Dr. Fred Sinowatz sprach Heiner Boberski.

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