Lern-Akkord und Schichtbetrieb

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Mit ihren Studien löst Christiane Spiel, Bildungspsychologin an der Universität Wien und Mitglied der Zukunftskommission "Schule neu denken", regelmäßig Debatten aus. Im Furche-Interview spricht sie über Schüler-Arbeitszeit, 50-Minuten-Unterricht und Aggressionen in der Klasse.

Die Furche: Ihre Studie, wonach Österreichs Schüler bis zu 75 Stunden pro Woche für die Schule aufwenden, wird vom Bildungsministerium als Beleg für die Notwendigkeit von Stundenkürzungen herangezogen. Ist diese Maßnahme in Ihrem Sinn?

Christiane Spiel: Was Petra Wagner und ich untersucht haben, ist die außerschulische Arbeitszeit. Die ist einer unglaublichen Schwankungsbreite unterworfen und geht von praktisch Null bis zu 50 Stunden. Um die Gesamtbelastung festzustellen, haben wir den schulischen Unterricht dazu addiert. Ich glaube jedenfalls nicht, dass sich die Arbeitsbelastung der Kinder zu Hause ändert, wenn sie zwei Stunden weniger Unterricht haben. Ohne flankierende Maßnahmen, die ja die "Zukunftskommission" erarbeiten soll, wird das sicher nicht gehen.

Die Furche: Wofür wenden manche Schüler 50 Stunden pro Woche auf?

Spiel: Wir haben den Schülern ein Tagebuch vorgelegt, wo sie eine Woche lang genau das eintragen mussten. Dabei hat sich gezeigt, dass mehr Zeit - vor allem von Mädchen - für das Lernen als für Hausaufgaben investiert wird. Eigentlich sind aber Hausaufgaben gerade dazu da, um für die Schule zu lernen und zu üben. Offensichtlich scheinen sie also ihren Zweck nicht zu erfüllen. Man muss also hinterfragen: Ist für die Jugendlichen klar, dass sie durch Hausübungen lernen sollen? Oder haben sie den Eindruck, ganz anders lernen zu müssen - etwa für Schularbeiten? Wir haben ja festgestellt, dass das Lernen für Schularbeitsfächer die Arbeitszeit zu Hause in überwältigendem Ausmaß dominiert.

Die Furche: Haben schwache Schüler größere Arbeitsbelastungen?

Spiel: Nein: Zwischen der Arbeitszeit und der Schulnote besteht überhaupt kein Zusammenhang. Das ist durchaus plausibel, denn jeder kennt aus seiner Schulzeit Schüler, die viel arbeiten, weil sie gute Noten haben wollen, und solche, die gute Noten haben und wenig arbeiten. Dasselbe gilt für schlechte Noten. Der Arbeitsaufwand hängt aber sehr wohl mit dem Leistungsdruck zusammen, den die Schule vorgibt. Auch Prüfungsangst führt zu größerem Zeitaufwand, wobei wir herausgefunden haben, dass die Mädchen mehr Prüfungsangst haben, was dazu führt, dass die Mädchen oft mehr Zeit für die Schule investieren - vor allem in den Gymnasien.

Die Furche: Wie groß ist der Einfluss oder Leistungsdruck der Eltern auf den Arbeitsaufwand der Schüler?

Spiel: Das ist beileibe kein so ein großer Faktor - zumindest bezogen auf die Arbeitszeit. Es scheint so zu sein, dass der schulische Druck als belastender empfunden wird.

Die Furche: Jeder vierte bis fünfte österreichische Schüler bekommt nach Ihren Untersuchungen (teure) Nachhilfe. Wären Ganztagesschulen eine sozial verträgliche Alternative?

Spiel: Ich bin hier vorsichtig: Wenn man nicht die entsprechenden Rahmenbedingungen schafft, können Ganztagesschulen auch zu erheblichen Nachteilen führen: Zum einen kann es sein, dass Schüler acht Stunden in demselben Klassenzimmer verbringen müssen. Das ist furchtbar. Zweitens werden individuelle Freizeitaktivitäten sehr stark reduziert. Und drittens muss man die Frage stellen, ob die Schule überhaupt ein Ort ist, wo gern gelernt wird. Wir haben die Schüler in einer aktuellen Studie über Bildungsmotivation und lebenslanges Lernen gefragt, wo sie gerne lernen. Das Ergebnis war, dass die Attraktivität der Schule als Lernort wie auch die Bildungsmotivation der Schüler mit steigendem Alter rapide abnimmt. Volksschüler lernen noch gern in der Schule, aber fragen Sie keinen AHS-Oberstufenschüler. Man müsste durch eine neue Art des Unterrichts erst dafür sorgen, dass die Schüler gern in der Schule lernen, und zugleich die Ziele definieren, die in der Schule erreicht werden sollen. Alle anderen Fragen - weniger Schulstunden oder nicht, Ganztagesschule oder nicht - zäumen das Pferd von hinten auf.

Die Furche: Was müssten Ihrer Meinung nach die primären Ziele von Schule sein?

Spiel: Man muss die Kindern vor allem zum Lernen motivieren, ihnen Selbstvertrauen vermitteln und ihre Autonomie und Entscheidungskompetenz fördern - gerade in Zeiten der Reizüberflutung. Dazu wird man sich fragen müssen, ob es nicht besser ist, mehr fächerübergreifenden Projektunterricht anzubieten - was ja bereits an Schulen geschieht. Man müsste auch radikal fragen, ob es klug ist, am Montag von elf bis zwölf Uhr Geografie zu unterrichten, mittendrin aufzuhören und am Donnerstag von zwölf bis ein Uhr fortzufahren. Es wäre viel sinnvoller - und auch das geschieht bereits -, sich in einem längeren Block eingehend mit einem Thema zu beschäftigen. Außerdem würde ich dafür plädieren, das Faktenwissen, das zum Teil rasch vergessen wird - noch dazu, wenn es völlig interesselos gelernt wird - auf klar definierte Kernstoffe zu reduzieren. Umso wichtiger sind Leistungsstandards und mehr Evaluation in den Schulen. Evaluation soll wissenschaftsgestützt Rückmeldung geben und Optimierung ermöglichen.

Die Furche: Sie haben sich auch mit dem Thema Aggression in der Schule beschäftigt. Schon in der Volksschule kommt es demnach zu physischer und psychischer Gewalt zwischen Schülern. Ist auch hier Überforderung im Spiel?

Spiel: Alle Studien zeigen, dass aggressives Verhalten eine Mischung aus vielen Faktoren ist: aus anlagebedingte Einflüssen, negativen Vorbildern in der Familie oder falschem Erziehungsverhalten - entweder sehr restriktiv oder beliebig. Dazu kommt der Einfluss der Peer-Gruppe, der Gruppe von Gleichaltrigen. Wir haben außerdem in einer Studie festgestellt, dass Kinder, die höhere Aggressivitätswerte aufweisen, öfter Gewaltvideos und Horrorfilme sehen. Nur kann man nicht sagen, was zuerst war: Sind sie dadurch aggressiv geworden oder sehen sich aggressivere Schüler einfach lieber solche Filme an?

Die Furche: Erhalten aggressive oder verhaltensauffällige Kinder ausreichend Unterstützung - etwa durch Schulpsychologen?

Spiel: Es ist sicher gut, vermehrt Schulpsychologen beizuziehen, aber es ist unrealistisch anzunehmen, dass das Problem gelöst ist, wenn ein Schulpsychologe einmal mit einem Kind gesprochen hat. Ein Psychologe kann nicht von heute auf morgen ändern, was im Lauf einer Lebensgeschichte erlebt oder antrainiert wurde. Eine Änderung ist nur durch längerfristige Betreuung und Rückmeldung möglich. Es gibt hier schon viele Initiativen an den Schulen - nur wurden die wenigsten evaluiert, ob sie auch zielführend sind.

Die Furche: Sind Verhaltensvereinbarungen, wie sie an vielen Schulen eingeführt wurden, ein probates Mittel, um die disziplinären Probleme mit Schülern einzudämmen?

Spiel: Grundsätzlich ist das ein durchaus sinnvolles Konzept. Wichtig ist nur, dass es Vereinbarungen zwischen Partnern sind und von beiden Seiten, also auch von den Lehrern, ernst genommen werden.

Das Gespräch führte Doris Helmberger.

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