Schule - © Illustration: Rainer Messerklinger

Hopmann: Zurück zur Schule, Zentralmatura abschaffen

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Erwartungssicherheit und Gemeinschaft sind die Grundsäulen guten Lernens – auf keine der beiden können sich Schüler derzeit stützen. Über die Notwendigkeit einer nachhaltigen Bildungspolitik jenseits von Covid-Panikattacken. Ein Gastkommentar.

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Erwartungssicherheit und Gemeinschaft sind die Grundsäulen guten Lernens – auf keine der beiden können sich Schüler derzeit stützen. Über die Notwendigkeit einer nachhaltigen Bildungspolitik jenseits von Covid-Panikattacken. Ein Gastkommentar.

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Bald dürfen die Schülerinnen und Schüler vielleicht wieder in die Schule zurück. Vielleicht auch nicht, je nachdem, wie sich die Pandemie entwickelt und die Regierung entscheidet. Kann auch sein, dass sich Österreich doch noch dem europaweiten Trend anschließt, die Schulen länger geschlossen zu halten, nachdem sich gezeigt hat, dass ausgerechnet die Schulgeneration zurzeit die Gruppe mit dem höchsten Infektionsrisiko ist. Schnelltests und erste Impfungen mögen helfen oder falsche Sicherheiten schaffen.

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Wie dem auch sei: Bis zur Wiedereröffnung wird das betrieben, was euphemistisch „Online Learning“ genannt wird. Der irreführende Anglizismus kann kaum darüber hinwegtäuschen, dass es hier in Wirklichkeit meist um „Online-­Durchwursteln“ geht: Mal gibt es mehr, mal weniger Online­-Unterricht; mal mehr, mal weniger Hausübungen; mal zusätzliche Präsenz­ oder Online­-Prüfungen oder auch nicht. Kein Tag ist wie der andere. Das ist nicht einer Böswilligkeit der Lehrkräfte geschuldet, sondern spiegelt schlicht die unvermeidlichen Störungen, die durch Ressourcen­ und Personalmangel entstehen. Eine vernünftige Regulierung des eigenen Einsatzes ist da kaum möglich. Genau deshalb freuen sich die meisten Schülerinnen und Schüler darauf, wenn es endlich wieder einen normalen Schulalltag gibt. Noch mehr freuen sie sich vermutlich darauf, ihre Freunde wiederzu­treffen. Intuitiv haben sie längst die beiden wichtigsten Grundsäulen erfasst, auf denen gute Schule und gelingendes Lernen beruhen: Erwartungssicherheit und Gemeinschaft.

Pädagogischer Unsinn

Kaum zurück in der Schule droht dann schon das nächste Ungemach. Für viele werden die Semesterzeugnisse deutlich schlechter als sonst ausfallen. So manches „Ungenügend“ wird sich darin wiederfinden. Viele Lehrkräfte begründen dies mit einem notwendigen „Warnschuss“. Wenn sie jetzt nicht den „tatsächlichen Leistungsstand“ verdeutlichen, könnten die „Lücken“ übergroß werden. Schülerinnen und Schüler für Lücken büßen zu lassen, die sie nicht allein verschuldet haben, ist pädagogischer Unsinn. „Lücken“ können nur dann entstehen, wenn ich mir Schulwissen als einen linearen Korpus vorstelle, dessen sämtliche Etappen gekonnt werden sollen.

Tatsächlich sind die zugrunde liegenden Lehrpläne ja nur eine von tausenden Möglichkeiten. Je nach Land und Zeiten haben höchst unterschiedliche Dinge zu diesem Korpus gerechnet, ohne dass ein Früher oder Später vom einen oder anderen irgendwelche nachhaltigen Folgen auf Bildungsgang und Lebensweg haben müsste. Ja selbst innerhalb eines Landes mit gemeinsamen Lehrplan unterscheidet sich erheblich, was in den einzelnen Schulklassen wann gelernt werden kann. Die vermeintlichen „Lücken“ sind also nichts anderes als der empirisch durch nichts zu begründende Irrglaube, irgendetwas sei hier und jetzt unverzichtbar.

Wissen im Widerstreit

Dahinter steckt ein schon auf die Anfänge der öffentlichen Schule zurückgehender Widerstreit. Während die einen mit Platon glauben, es gäbe einen (philosophisch) bestimmbaren fixen Kanon, der dort zu erwerben wäre, gehen andere mit Aristoteles davon aus, dass es in der Schule gar nicht darum gehen kann, möglichst viel Wissen anzueignen, sondern um den Erwerb von Gemeinschaftsfähigkeit. Wissensvermittlung könnte auch individuell vonstatten gehen. Schule ist dagegen der Ort, um zu lernen, sich mit anderen zu verständigen. Schulfächer sind in dieser Perspektive nicht mehr oder weniger beliebige Wissensanhäufungen, sondern Einführungen in verschiedene Weisen der Verständigung über Welt: sprachlich, mathematisch, ästhetisch, historisch, naturwissenschaftlich, religiös usw. Wohin es führt, wenn es an dieser Verständigung fehlt, können wir gerade jetzt in der Coronakrise ausgiebig studieren.

Trotz jahrelangen Unterrichts fallen zahllose Menschen auf Fake News und Pseudowissenschaften herein, weil sie eben nicht gelernt haben, Wissensangebote kritisch zu hinterfragen und sich mit anderen darüber sachgerecht zu verständigen. Gerade in einer Welt rasch wandelnden Wissens und ständiger Informationsfluten käme es auf den Ausbau genau dieser Verständigungsfähigkeiten an. Dafür ist jenseits des Erwerbs der grundlegenden Fertigkeiten nicht so sehr entscheidend, an welchen Fachinhalten Verständigung in der Schule vertieft, sondern wie sie er­ arbeitet wird. Je gründlicher und vielseitiger etwas behandelt werden kann, umso besser lässt sich zeigen, welche Möglichkeiten es dafür gibt.

Alle standardisiert vorgegebenen Tests, darunter die Zentralmatura, sollten abgeschafft und wieder durch lokale ersetzt werden – nicht nur 2021.

Stefan T. Hopmann

In diesem Sinne waren Lehrpläne früher auch gar nicht als abgeschlossene Kataloge zu erwerbenden Wissens gemeint, sondern als Angebot möglicher Gegenstände, an denen sich solcher Bildungsgehalt erwerben lässt. Sage jetzt bitte niemand, genau darauf ziele doch auch die neue Kompetenzorientierung in den österreichischen Lehrplänen ab. Sie hat im Gegenteil in Verbindung mit Konstrukten wie der Zentralmatura und den nationalen Standardtests dazu geführt, den Stoffdruck zu erhöhen und den Raum für gründliches, gemeinschaftliches Arbeiten zu verringern.

Denen, die in einer solchen Rückbesinnung auf den Schulzweck Leistungsfeindlichkeit vermuten, sei gesagt: Die seit der Erfindung der öffentlichen Schule verbreitete Klage, die jeweilige Generation würde weniger gefordert als ihre Vorgänger (gerne garniert mit idealisierten Erinnerungen an eigene Großtaten), war empirisch schon immer unbegründet. Leistungen und Erwartungen sind nicht geringer geworden, eher im Gegenteil. Alle, die eine Sache wirklich beherrschen, werden aber bestätigen können, dass man mehr und nachhaltiger lernt, wenn man wenigstens in Ansätzen versteht, worum es wie geht, als wenn man mit unbegriffenen Bruchstücken das Kurzzeitgedächtnis vollstopft.

Weg mit der Zentralmatura

Wir sollten also nicht nur physisch, sondern auch pädagogisch zur Schule als Ort gemeinschaftlicher Verständigung über Sachverhalte zurückkehren. Dazu bedarf es der Wiederherstellung dessen, was Schülerinnen und Schüler zu Recht als deren Eckpfeiler erleben: Erwartungssicherheit, die allen in einem überschaubaren Rahmen die Chance zur gelingenden Teilhabe an fachlicher Verständigung eröffnet, sowie Gemeinschaft als entscheidender Modus, mit anderen über Welt und sich selbst zu lernen. Wir sollten Covid­-19 als Chance nutzen, uns von der Hybris immer hypertropher werdender Wissensanhäufung zu verabschieden, und uns stattdessen wieder darauf konzentrieren, wofür Schule geeignet ist. Die Möglichkeiten dafür ließen sich mit einem minis­terialen Federstrich absichern: Alle standardisiert vorgegebenen Tests, darunter die Zentralmatura, sollten abgeschafft und wieder durch lokale ersetzt werden – nicht nur 2021. Zentralisierte Prüfungen haben eine eingebaute Dynamik, die schädlich für den Unterricht und die sozialen Chancen ist. Doch zu befürchten ist, dass eine unter Covid­-Panikattacken weitgehend sinnbefreite Bildungs­politik weiter an der Illusion einer standardisierten Massenproduktion festhalten will.

Das gefährdet nicht nur die Lernfähigkeit unserer Kinder, sondern auch – wie wir gerade rund um den Globus bis an die Stufen des Kapitols in Washing­ton gezeigt bekommen – Demo­kratie und Gemeinwohl.

Der Autor ist Professor für Bildungswissenschaften an der Universität Wien.

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