Erdost

Schule und Corona: „Wir brauchen einen Neustart"

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Schluss mit der Mangelverwaltung im Bildungssystem, fordert AK-Bildungsexpertin Ilkim Erdost. Über das Kompetenzen-Wirrwarr, ungleiche Chancenverteilung und die „Schlüsselmilliarde“, die es für Kindergärten braucht.

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Schluss mit der Mangelverwaltung im Bildungssystem, fordert AK-Bildungsexpertin Ilkim Erdost. Über das Kompetenzen-Wirrwarr, ungleiche Chancenverteilung und die „Schlüsselmilliarde“, die es für Kindergärten braucht.

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Schule auf, Schule zu, Distance Learning, Lockdowns – wie hat sich die Pandemie auf das österreichische Bildungssystem ausgewirkt? Ilkim Erdost, Leiterin des Bereichs „Bildung und Konsument:innen“ in der Arbeiterkammer Wien, sprach mit der FURCHE über die Schule der Zukunft, Ganztagsschulen als Gewinn für Schüler(innen) aus sozial schwachen Milieus und ihre Erwartungen an den neuen Bildungsminister.

DIE FURCHE: Wie beurteilen Sie den Schulstart im Herbst? Nach wenigen Wochen waren allein in Wien 700 Klassen geschlossen. Hätte das vermieden werden können?
Ilkim Erdost:
Anders als zu Beginn der Pandemie, wo alle überrascht und von der Kurzfristigkeit gleichermaßen betroffen waren, war die Situation im September eine ganz andere. Man hätte den Sommer zweifelsfrei besser nutzen müssen. Einerseits, um einmal alle an einen Tisch zu holen, und zu schauen, welche Bildungsbedürfnisse haben die Schülerinnen und Schüler und was brauchen die Schulleitungen, die Lehrerinnen und Lehrer, um das Jahr mittelfristig gut planen zu können. Was außerdem nicht passiert ist, ist eine ausreichende Teststrategie für die Schulen zu entwickeln. Man hätte eine mittelfristige Strategie für sichere Schulen gebraucht, in dem der soziale Prozess des Lernens im Mittelpunkt stehen kann.

DIE FURCHE: Abgesehen von möglichen Lücken in der Wissensvermittlung, die durch den fehlenden Präsenzunterricht entstanden sind, fehlt die Schule als Ort des sozialen Miteinanders. Welche Auswirkungen befürchten Sie?
Erdost:
Das gesamte Ausmaß können wir heute nur erahnen. Was wir jetzt schon sehen, ist ein deutlicher Anstieg an psychischen Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen. Bis zu einem Drittel klagen über depressive Verstimmungen, Schlafstörungen etc. Wir wissen aber nur von jenen Kindern, die sich Eltern oder Vertrauenspersonen anvertrauen können. Das heißt, es gibt eine Vielzahl von jungen Menschen, die sind in der Gesundheitsversorgung noch nicht spürbar. Auch hier wirken sich Lockdowns höchst negativ aus, weil gerade diesen Jugendlichen und Kindern, wichtige Vertrauenspersonen abhandengekommen sind. Abgesehen davon haben wir vielfach ein massives Problem mit Schülerinnen und Schülern, die jetzt die Pflichtschule verlassen und nicht ausreichend lesen, rechnen und schreiben können. In Österreich sprechen wir da – nach PISA-Ergebnissen - von rund 20 Prozent, eine unfassbare Zahl. Wir wissen nicht genau, wie sich rund um diese Schüler(innen)-Kohorte die Pandemie ausgewirkt hat – und das nicht durch ihr persönliches Versagen.

Viele Bundesländer nehmen große arbeitsmarktpolitischen Anstrengungen auf sich, um jene zu unterstützen, die nach Abschluss der Schule nicht sofort in einen Lehrberuf reinkommen und die noch Aufholbedarf haben. Wenn die Zahl derer, die Lernlücken aufweisen, noch einmal größer geworden ist und diese zusätzliche Zeit brauchen, um am Arbeitsmarkt Fuß zu fassen, haben wir eine noch stärkere Segmentierung am Jugendarbeitsmarkt zu befürchten als es jetzt schon der Fall ist. Der Bedarf an Unterstützung ist virulent, die Frage ist: Wie schnell sind wir in der Lage darauf zu reagieren?

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