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Blinde Maturanten werden Juristen

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„Was für eine Figur entsteht, wenn man die Punkte A, B und C miteinander verbindet?“ „Ein Dreieck.“ „Richtig, und was für ein Dreieck entsteht, wenn die drei Punkte gleich weit voneinander entfernt sind?“ „Ein gleichseitiges Dreieck.“ Eine Mathematikstunde wie jede andere? Nicht ganz, denn die Schülerin, die die Dreiecke zeichnet, ist blind. Sie ist eines von 150 Kindern im Alter zwischen vier und achtzehn Jahren, die im Blindenerziehungsinstitut in der Wittelsbachstraße im zweiten Wiener Gemeindebezirk den Kindergarten und die Pflichtschule besuchen oder einen Beruf erlernen. Die meisten von ihnen kommen aus den Bundesländern und wohnen im Internat. Nur rund fünf Prozent sind aus Wien.

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„Was für eine Figur entsteht, wenn man die Punkte A, B und C miteinander verbindet?“ „Ein Dreieck.“ „Richtig, und was für ein Dreieck entsteht, wenn die drei Punkte gleich weit voneinander entfernt sind?“ „Ein gleichseitiges Dreieck.“ Eine Mathematikstunde wie jede andere? Nicht ganz, denn die Schülerin, die die Dreiecke zeichnet, ist blind. Sie ist eines von 150 Kindern im Alter zwischen vier und achtzehn Jahren, die im Blindenerziehungsinstitut in der Wittelsbachstraße im zweiten Wiener Gemeindebezirk den Kindergarten und die Pflichtschule besuchen oder einen Beruf erlernen. Die meisten von ihnen kommen aus den Bundesländern und wohnen im Internat. Nur rund fünf Prozent sind aus Wien.

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In der Kindergartengruppe, aus der die Kinder ab dem Mittagessen jederzeit abgeholt werden können, üben die Erzieherinnen besonders die täglichen Handgriffe beim Essen, beim An- und Ausziehen und beim Spielen. Sie sollen den Kindern von klein auf eine weitgehende Selbständigkeit ermöglichen. Nach dem Kindergarten absolvieren die Kinder, wie alle anderen auch, die Pflichtschule, in der die Koedukation eine Selbstverständlichkeit ist. Die Volksschule des Blindenerziehungsinstitutes führt alle vier Klassen und nimmt nur auf die Blindheit der Schüler Rücksicht, sonst unterscheidet sich der Lehrplan - einschließlich beginnendem Englischunterricht - durch nichts von dem anderer Volksschulen.

Seit etwa einem Jahr gilt die Hauptschule des Institutes als „Hauptschule für blinde Kinder“. Der Fachunterricht entspricht dem Lehrplan aller Hauptschulen; ab der fünften Schulstufe wird Englisch unterrichtet und ab der siebenten Maschinschreiben. In den naturwissenschaftlichen Fächern wird die optische Vermittlung durch Museumsbesuche ersetzt. Dort dürfen die Kinder alles in die Hand nehmen oder abtasten. Das große Entgegenkommen und die Unterstützung aller Museen ist für die Erweiterung ihrer Erlebniswelt eine große Hilfe.

Den Polytechnischen Lehrgang besuchen nur die besten Schüler, er bildet den Übergang für die Stenotypisten- und Telephonistenausbildung. Von ihnen gehen manche sogar in eine normale Allgemeinbildende Höhere Schule (AHS). Theoretisch könnten 15 bis 20 Prozent der blinden Schülerinnen und Schüler eine AHS besuchen, aber ihre Chancen nach der Matura sind sehr begrenzt. Bisher haben alle blinden Maturanten Jus studiert.

Besonders gefordert wird der Turnunterricht, weil Blinde von Natur aus bewegungsscheu sind. Sie machen Leichtathletik, gehen Eisläufen und Rollschuhfahren und ab der fünften Schulstufe ist Schwimmen Pflicht.

Seit drei Jahren gibt es sogar Skikurse. Um die Kinder nicht zu überfordern, wird das Schwergewicht des Nachmittagsunterrichtes auf Turnen und Musik gelegt. Die Ansicht, daß Blinde musikalischer sind, ist zwar sehr verbreitet, stimmt aber nicht. Sie sind nur viel empfänglicher für Musik, weil sie sich weit mehr darauf konzentrieren.

Im Institut lernen sie Klavier, Flöte, Geige, Trompete, Klarinette und Orgel. Mit dem Üben ist es derzeit etwas schwierig, weil umgebaut wird. Nach Abschluß der Bauarbeiten wird das Institut aber einen eigenen Internatstrakt und ein eigenes Schwimmbad haben.

Im Schulbetrieb werden auch zwei Klassen für mehrfachbehinderte Kinder geführt. Viele sind nämlich nicht „nur“ blind, und bei ihnen sind besondere pädagogische Maßnahmen notwendig, damit sie letztlich „nur einfachbehindert“, nämlich eben nur blind sind.

Direktor Benesch, der früher an verschiedenen Schulen unterrichtet hat, leitet das Blindenerziehungsinstitut seit bald zehn Jahren. Ihm unterstehen 26 vollbeschäftigte und drei teilzeitbeschäftigte Lehrer und er hat auch die Oberaufsicht über die Berufsausbildung im Institut Die besten Schüler können nach dem Polytechnischen Lehrjahr entweder die einjährige Telephonistenausbildung (derzeit zwei Klassen) oder die zweijährige Stenotypisten- und Phototypistenklassen (derzeit drei) absolvieren.

Für ausgebildete blinde Telephonisten sind die Berufsaussichten regional sehr unterschiedlich, relativ günstig sind sie für Stenotypisten: ein ehemaliger Absolvent des Institutes ist heute Leiter des Stenographendienstes im Kärntner Landtag und bei größeren Gerichten besteht Bedarf an blinden Stenotypisten. Sicher ein Beweis für die Qualität ihrer Ausbildung.

Für die anderen Schüler werden Lehrwerkstätten für Pinsel- und Bürstenerzeugung und für Korbflechten geführt. Die Korbflechterei wird allerdings wegen der schlechten Berufsaussichten mehr und mehr zur Therapiewerkstätte. Manche lassen sich im Wilhelminenspital zu Masseuren ausbilden.

Der Intematsbereich des Institutes ist vom Schul- und Berufsausbildungsbetrieb völlig getrennt. Während sich bei den Lehrern die Anzahl der Frauen und Männer etwa die Waage hält, sind von den 16 Erziehern nur drei Männer. Jeweils zwei Erzieher sind einer Gruppe fix zugeteüt und wechseln einander ab.

Auch die externen Schülerinnen und Schüler machen ihre Aufgaben im Heim, so daß auch außerhalb der Schule ein ständiger Kontakt gegeben ist. Eine Gruppe umfaßt alle Kinder der ersten und zweiten Volksschulklasse, eine Gruppe die Mädchen der dritten und vierten, eine die Buben der dritten und vierten Volksschul- sowie der ersten Hauptschulklasse. Die Mädchen der ersten bis vierten und die Buben ab der zweiten Hauptschulklasse sind jeweils in einer Gruppe zusammengefaßt, ebenso die Mädchen und Buben ab dem polytechnischen Lehrjahr. Interessanterweise stehen im Institut jeweüs einem Drittel Mädchen zwei Drittel Buben gegenüber.

Ärztliche Betreuung wird hier ganz groß geschrieben. Die Hausärztin kommt zweimal wöchentlich und ist sonst jederzeit erreichbar. Bei Bedarf kommt ein Augenarzt aus dem Ru- dolfsspital, meistens aber gehen die Kinder dorthin, ebenso wie in die Schulzahnklinik, wo bei vielen eine N arkose notwendig ist, weil ihre Angst noch viel größer ist als die der sehenden Kinder.

Etwa vierzig Prozent sind vollblind, rund fünf Prozent haben progressive Augenerkrankungen, werden jedoch in der Mehrzahl bald vollblind. Die restlichen rund 55 Prozent sind praktisch blind mit einem statischen Sehrest. Je nach ihrem Intelligenzgrad können sie ihren Sehrest optimal auswerten, manche von ihnen bewegen sich fast wie Sehende. Vererbte Augenerkrankungen sind übrigens bei Blinden sehr häufig.

So ähnlich blinde und sehende Kinder und Jugendliche in ihrer Entwicklung, in ihren Interessen Und Verhaltensweisen sind, so schwierig ist die psychische Situation der Blinden. Besonders in der Pubertät kommen Komplexe, Existenzangst und die immer wiederkehrende Frage „Warum gerade ich?“ vehement zum Ausbruch. Hier helfen nur eine sehr vorsichtige Behandlung, Aktivität und vor allem Gespräche und wieder Gespräche, wie Direktor Benesch und Erziehuhgsleiter Kowal aus langjähriger Erfahrung wissen. Die Neigung zum Alkoholismus hat unter Blinden in den letzten Jahren stark zugenommen, auch bei Jugendlichen.

Kontakte mit Sehenden funktionieren nur selten, von beiden Seiten. Blinde sind besonders gehemmt, ziehen sich leicht zurück. Freundschaften entstehen nur in Einzelfällen, am ehesten bei den Kleinen und eventuell am Land; im allgemeinen aber ist eine sehr starke persönliche Bindung die notwendige Voraussetzung. Ein Versuch, blinde Jugendliche tanzen lernen zu lassen, ist gescheitert; Tanzschulen sind nicht bereit, Blinde aufzunehmen (Warum???). Die empörendsten Umweltreaktionen kommen jedoch von Erwachsenen, die in oft verletzender Form ihre Aggressionen an blinden Kindern und Jugendlichen ayslassen.

Abgesehen vom Fernsehen haben blinde Kinder und Jugendliche dieselben Freizeitgewohnheiten wie die Sehenden. Da sie besonders zu Passivität und Labilität neigen, ist die Motivation zu aktiver Freizeitgestaltung eine besondere Aufgabe der Erzieher. Mit viel Phantasie und großem persön-

liehen Einsatz haben sie alle Spiele, die üblich sind, für Blinde umgebaut Baukästen, Domino und Schach sind ebenso eine Selbstverständlichkeit wie DKT und Backgammon. An Wochenenden gehen sie mit den Jugendlichen ins Stadion zum Fußballmatch oder nach Schönbrunn, machen Ausflüge, einige gehen sogar ins Kino!

Meistens sind aber auch die Eltern hilflos. Sie wissen nicht, wie sie ihre blinden Kinder behandeln, was sie mit ihnen anfangen sollen. Bis zu einer Entfernung von hundert Kilometern werden die Kinder an den Wochenenden abgeholtund verbringen die zwei Tage mit ihren Eltern; wenn sie zurückkommen, erzählen sie oft, wie sehr sie sich gelangweilt haben. Das Institut gibt regelmäßig eine Hauszeitung heraus und versucht auch sonst mit den Eltern in Kontakt zu bleiben und ihnen bei ihren Problemen behilflich zu sein.

Werken spielt eine ganz große Rolle: hier lernen sie Knöpfe annähen, Strümpfe stopfen, aber auch Kochen. Für Formen mit Ton zeigen blinde Kinder ein besonders gutes Gefühl.

In der Bibliothek des Instituts sind mehr als 16.000 Bücher aus allen Literatursparten vertreten. Die Kinder lesen viel oder wenig, wie alle anderen auch, ebenso wie sie gerne Schallplatten, Radio und Tonbänder hören. -Im Haus ist auch die einzige Blindendruckerei Österreichs untergebracht

Besonders viel Freude macht den Kindern das jährliche Weihnachtsspiel. Ab Oktober findet jeden Tag eine halbe Stunde Probe statt, mit allen Beteiligten. Und im Vorjahr waren sie fünfzehnmal in Wien und Niederösterreich zu Aufführungen eingeladen.

Zweifellos wird im Blindenerziehungsinstitut' alles getan, um den Blinden einen möglichst guten Start für ihr weiteres Leben zu geben. Das Engagement der Lehrer und Erzieher ist bewundernswert und viele von ihnen widmen sich fast ausschließlich ihren Schützlingen.

Und wenn sie das Heim verlassen? Was dann? Solange unsere Gesellschaft nicht lernt, sich Blinden, ebenso wie anderen physisch und psychisch Behinderten, wie vollwertigen Menschen gegenüber zu benehmen, sie in ihr tägliches Leben zu integrieren und ihnen auch weiterhin alle Chancen für ein erfülltes Leben einzuräumen, so lange wird der Einsatz des Blindener- ziehungsinstiutes bestenfalls ein Anfang sein, aber leider nicht mehr.

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