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Kein Häufchen Elend mehr

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Angelika nimmt aus einer Schachtel große, rote Buchstaben und ordnet sie zu römischen Zahlen. „Jetzt mache ich eine Sieben, jetzt eine Zweiundzwanzig — und das, guck mal, ist eine Dreißig“, belehrt sie ihren achtjährigen Nachbarn Klaus.

Angelika ist zehn Jahre alt, leidet an Krampfanfällen und hat einen niedrigen Intelligenzquotienten. Oliver legt Papierquadrate nach verschiedener Größe auf ein Blatt Papier und zeichnet ihre Konturen ab. Dazu sagt er laut und deutlich: „Das ist ein Zweierquadrat, das ist ein Dreierquadrat, das ist ein Viererquadrat.“ Daneben schreibt er dann die Rechnungen: 2x2 = 4, 3x3 = 9, 4 x 4 = 16. Oliver ist acht Jahre alt, zerebral bewegungsgestört und hat einen Entwicklungsrückstand von ein bis zwei Jahren.

Daneben liegen Werner und Sonja bäuchlings auf einer bunten Matte und betrachten eingehend zusammenfaltbare Tierbilder, bei denen jeweils ein Körperteil farbig angemalt ist. Dann schreiben sie langsam und sorgfältig in ihre Schulheftchen: „Die Katze hat acht Augenbrauenhaare, Schwanzhaare, eine Nase, ein Maul, zwei Augen, Pupillen...“ Das Mädchen ist sieben, der Junge neun Jahre alt. Beide sind gesund.

Angelika, Oliver, Werner und Sonja werden in der Montessori-Schule in München unterrichtet, die Professor Theodor Hellbrügge für gesunde und mehrfach behinderte Kinder eingerichtet hat. Sie wird nach den Prinzipien der italienischen Ärztin Maria Montessori geführt, die zu Beginn unseres Jahrhunderts völlig neue — und damals revolutionäre — Erziehungsmethoden propagierte.

Prof. Hellbrügge sieht nun in diesem Schulsystem, das nach dem Montessori-Leitspruch „Hilf mir, es selbst zu tun“ die Kinder zu selbständigem, kritischem Denken führen soll, die „ideale kindgerechte Erziehung“, die es außerdem erlaubt, gesunde und behinderte Kinder gemeinsam zu unterrichten.

Als Leiter der Forschungsstelle für soziale Pädiatrie und Jugendmedizin der Universität München hat Prof. Helibrügge mit dem 1948 gegründeten Kinderzentrum für mehrfach und verschiedenartig behinderte Kinder (dem ein Montes-sori-Kindergarten und eine Montes-sori-Schule angeschlossen sind) eine wissenschaftlich fundierte Zusammenarbeit von Medizinern und Pädagogen ermöglicht. Den eigentlichen Schwerpunkt seiner Behandlung legt er in die ersten Kinderjahre. Bei Behinderungen, die in dieser Zeit erkannt werden, ist die Chance auf Besserung und Heilung ungleich größer als bei später erkannten Krankheiten und Defekten. Auf dieser Erkenntnis, die durch ausführliche Untersuchungen der Forschungsstelle für soziale Pädiatrie belegt wurde, baut Hellbrügge sein gesamtes medizinisch-pädagogisches Programm auf.

Daß die Probleme geistig und körperlich Behinderter besser und intensiver erfaßt werden müssen als bisher, zeigt ein Blick auf die Statistik. Die Zahl der Behinderten steigt auch noch immer an. Zwar kann die moderne Geburtsmedizin immer mehr Kinder am Leben erhalten — aber häufig um den Preis einer frühen Schädigung, die dann später zu den verschiedensten Behinderungen führt. Erst zögernd beginnt die Öffentlichkeit sich nacht nur durch Spenden und finanzielle Zuschüsse loszukaufen, sondern den Behinderten vor allem durch neue medizinische Programme und ein besonderes Verständnis die Integration in die Gesellschaft zu erleichtern.

Das Modell von Theodor Hellbrügge ist sicher ohne Beispiel in der ganzen Bundesrepublik und wahrscheinlich auch in Europa. Und zwar nicht nur deshalb, weil hier auf die so wichtige Frühtherapie des Säuglings die Eingliederung des behinderten Kleinkindes in den Kindergarten und anschließend in die Grundschule folgt (und später der Übergang in ein Montessori-Gymnasium ermöglicht werden soll), sondern auch, weil es sich hier um mehrfach behinderte Kinder handelt, deren Schwierigkeiten bisher in den amtlichen Rehabilitationsprogrammen kaum berücksichtigt wurden. Und das, obwohl ein Großteil der behinderten Kinder — etwa 80 Prozent — gar nicht einfach, sondern mehrfach behindert ist.

Wer nun Gelegenheit hat, die Kinder einen Vormittag bei ihrer Arbeit in Hellbrügges Montessori-Schule zu beobachten, wird staunen, mit welchem Eifer sich viele der behinderten Kleinen an die ihnen gestellten Aufgaben heranmachen, wie selbstverständlich und natürlich sie sich zwischen ihren gesunden Mitschülern bewegen und wie unbefangen sich die gesunden Kinder ihren behinderten Kameraden gegenüber verhalten.

Denn die Montessori-Pädagogik erlaubt es nicht nur, Kinder verschiedenen Alters, sondern auch verschiedener Entwicklungsstufen miteinander zu unterrichten. Lehrer und Kinder bilden ein Team, das sich gegenseitig dabei hilft, zum jeweiligen Ziel zu kommen. Die Kinder lernen vom Lehrer — der Lehrer lernt aber auch von den Kindern. Die Kranken lernen von den Gesunden, aber auch die Gesunden lernen häufig schneller und besser als in einer Normalschule, weil sie sich ihren besonderen Anlagen entsprechend entwickeln können. Außerdem werden sie zu Hilfsbereitschaft und Rücksichtnahme Behinderten gegenüber erzogen.

Und wie sieht nun ein Vormittag an dieser Schule aus, die keine Noten kennt und keine Prüfungen, kein „Du sollst“ und „Du sollst nicht“, dafür aber das Bemühen, die Persönlichkeit des Kindes zu entdecken und zu fördern? Zwischen 8 Uhr und 8.30 Uhr füllt sich die Klasse langsam. Es sind insgesamt 25 Kinder, die Frau Ookel, Schulleiterin und Klassenlehrerin des 3. Schuljahres, unterrichtet. Davon 17 gesunde und acht behinderte im Alter von sieben bis elf Jahren. Die erste halbe Stunde vor Beginn des Unterrichts bereiten sich die Kinder auf ihre Arbeit vor, die sie selbst auswählen dürfen. Außerdem wollen jetzt viele mit der Lehrerin ihre Problemchen besprechen. „Frau Ockel“, schreit der kleine Jürgen aufgeregt, „heute ist ein Mann bei Rot über die Kreuzung gefahren!“ Und die achtjährige Elisabeth möchte gerne wissen, wie groß alle Meere zusammen sind. Denn die Lehrerin ist eine Vertrauensperson, die nicht nur Schwierigkeiten des Schulalltags meistern hilft, sondern darüber hinaus am privaten Leben der Kleinen teilnimmt. Der intensiv gepflegte Kontakt mit den Eltern ist darum auch besonders wichtig.

Um 8.30 Uhr ordnet die Lehrerin Ruhe an,' und dann hat sich auch schon jedes Kind in seine Aufgabe vertieft: der achtjährige Peter, ein sehr intelligentes, aber auch sehr eigenwilliges Kind, multipliziert mühelos mit vielstelligen Zahlen und übt sich im Quadratwurzelziehen — eine Leistung, die man gewöhnlich erst im Gymnasium erwartet. Der neunjährige, spastisch gelähmte Karl setzt sich an eine elektrische Schreibmaschine, die mit einem speziellen Tastrost versehen ist, und beginnt mit einer Recht-schredbübung. Und die siebenjährige Karin ordnet zusammen mit ihrer etwas älteren Freundin die Figuren eines Bauernhofes, der in der Mitte des Raumes steht. Dann schreibt sie die Namen der Tiere in ihr Heft ein und beginnt schließlich, richtige kleine Geschichten damit zu erfinden. Eines wird sehr deutlich: Hier müssen die Kinder nicht — sie wollen. Und indem sie sich Ihre Aufgaben selbst aussuchen, sind sie auch allein für das Ergebnis verantwortlich. „Der Lehrer hingegen kann sicher sein, daß das, was die Kinder durch Eigenstudium gelernt haben,nicht wieder vergessen wird“ — so Frau Ockel.

Das bewußt anschaulich gehaltene Montessori-Lernmaterial hilft ihnen dabei, den Lernstoff spielerisch zu bewältigen, und führt sie in das abstrakt-begriffliche Denken. Da gibt es bunte Perlenschnüre und Perlenketten, mit denen die Kinder das Dezimalsystem lernen. Bild-kärtchen werden in Worte übersetzt und mit dem entsprechenden Wort auf der Rückseite verglichen. Und auf einem Globus, auf dem die Formen der Kontinente in rauhem Sandpapier angelegt sind, erfährt der kleine Schüler tastend das Bild der Erde. Manchmal werden auch Gemeinschaftsarbeiten durchgeführt: Rechendiktate, Schreibübungen, Verkehrserziehung. Über Ergebnisse und Fortschritt im Schulunterricht gibt das sogenannte „Pensenbuch“ Auskunft, in dem jedes halbe Jahr über das erreichte Pensum bei einzelnen Fächern berichtet wird. Der Unterricht erfolgt nach den amtlichen bayerischen Lehrplänen. Neben dem speziellen Montessori-Material, das spielerisch ins begriffliche Denken führt, werden auch dieselben Bücher wie an den üblichen Grundschulen benutzt.

Wie sehr sich ein kleiner Behinderter bei dieser behutsamen Führung entwickeln kann, zeigt am besten der neunjährige Ernst, der dreifach behindert ist: er leidet an einer achtzigprozentigen Taubheit, die er allerdings durch ein Hörgerät im Brillenbügel regulieren kann, er ist stark kurzsichtig und hat ein zu kleines Gehirn. „Als er zu uns kam, war er ein Häufchen Elend“, sagt Frau Ockel. „Jetzt ist er einer der Allereifrigsten. Rührend ist es zu sehen, mit welcher Hingabe und Konzentration sich dieser schmächtige kleine Kerl im Rechnen übt — mit dem bunten Perlenmaterial, das er immer wieder vor sich ausbreitet, ordnet und zusammenstellt. Er wirkt dabei sehr fröhlich und kräht mit lauter und tiefer Stimme seine Ergebnisse in den Raum. Doch da wird er regelmäßig von Frau Ockel zur Ruhe gemahnt: sich bewegen, herumgehen, anderen bei der Arbeit helfen und miteinander reden — das ist erlaubt; wenn es aber zu unruhig wird, spricht die Lehrerin ein Machtwort, wahrt eine vernünftige Autorität, die den Zusammenhalt der Gemeinschaft und eine fruchtbare Arbeit sichert.

Daß diese Lehrmethode nach Maria Montessori oft verblüffende Ergebnisse erzielt, ist hinlänglich bewiesen. Gesunde und mehrfach behinderte Kinder gemeinsam nach dieser Methode zu unterrichten, ist ein Experiment. Ob es sich weiterhin bewährt, muß sich erst zeigen.

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