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Veronika kann nämlich erstaunlich viel

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Veronika* arbeitet in einem Kindergarten. Sie spielt, bastelt und singt mit den Kindern. Veronika liebt diese Tätigkeit. Obwohl einige Ärzte der Ansicht sind, daß sie bestenfalls in einer geschützten Werkstätte arbeiten könnte.

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Veronika* arbeitet in einem Kindergarten. Sie spielt, bastelt und singt mit den Kindern. Veronika liebt diese Tätigkeit. Obwohl einige Ärzte der Ansicht sind, daß sie bestenfalls in einer geschützten Werkstätte arbeiten könnte.

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Ihr Intelligenz-Quotient (IQ) liegt bei 70. Die Ursachen für diese reduzierte geistige Entwicklung lassen sich nicht eindeutig feststellen. Ein angeborener Herzfehler machte einige Operationen notwendig, die Narkosen haben das Kind zusätzlich belastet. Jetzt ist sie 17, in einigen Jahren wird sie wahrscheinlich einen Herzschrittmacher bekommen.

Veronikas Schriftbild ist unregelmäßig, aber leserlich. Mit den Zahlen steht sie auf Kriegsfuß - „Mama, der neue Femseher kostet nur 200 Schilling!" - tatsächlich sind es 20.000. Selbständige Einkäufe werden dadurch zu einem Risiko.

Manchmal hat sie Angst vorm Stiegensteigen. Auf der Bühne, als Mitglied der integrierten Theatergruppe „Ich bin O.K" überwindet sie diese Angst.

In ihrer Freizeit geht sie mit Freundinnen ins Kino, liest Illustrierte und hört zum Leidwesen ihrer Mutter mit Vorliebe Hardrock. Ihr Leben gleicht dem unzähliger anderer Teenager, nur der Weg zu diesem Leben war ungleich mühevoller.

Alltägliche Fertigkeiten, wie das Erkennen der einzelnen Geldmünzen und die Uhrzeit, mußten mit ihr unzählige Male geübt werden. Die Suche nach verständnisvollen Lehrern war schwierig, aber erfolgreich.

Veronika ist eine von rund 40.000 geistig behinderten Menschen in Osterreich. Ein Großteil dieser Behinderten ist auf Ursachen die vor, während oder unmittelbar nach der Geburt eintreten, zurückzuführen. Beispielsweise Sauerstoffmangel oder eine Rötelerkrankung der Mutter während der Schwangerschaft. Der Anteil der erblich bedingten Behinderung ist minimal. Unfälle und Meningitis sind bei Erwachsenen die häufigsten Ursachen für eine geistige Behinderung.

Ein Großteil der geistig behinderten Kinder weist auch zerebrale Bewegungsstörungen und Sinnesbehinderungen auf. Bei den Symptomen der geistigen Behinderung ist durch Medikamente keine Beeinflussung möglich. Die Förderungsmöglichkeiten sind bei jedem Betroffenen völlig unterschiedlich und können nicht im vorhinein prognostiziert werden.

„Generell ist aber ein Leben unter abnormen institutionellen Bedingungen für niemanden die optimale Lösung", meint Mirko Nalis, pädagogischer Leiter des Förderpflegeheimes der Stadt Wien. Ein langer Heimaufenthalt führt bei vielen Betroffenen nicht nur zu einer weiteren Reduktion der geistigen Fähigkeiten. Es kommt auch vermehrt zu Verhaltensauffälligkeiten, wodurch die Integrationschancen drastisch vermindert werden.

Keine Großheime in Wien

In Wien gibt es bereits den politischen Grundsatzbeschluß, keine Großheime mehr zu errichten. In den Bundesländern hat sich diese Erkenntnis noch nicht durchgesetzt. Dort wurden diese Institutionen wider besseres Wissen oft erst vor kurzem mit viel Aufwand und öffentlichen Mitteln baulich saniert. Es ist daher gegen die Interessen der Betreiber, ihre „Insassen" in Wohngruppen zu entlassen.

Begrüßenswert wäre auch ein Ausbau der ambulanten Frühfördermög- lichkeiten. Derzeit mangelt es dafür noch an qualifiziertem Personal.

Die schulische Integration ist die nächste Hürde, die behinderte Kinder bewältigen sollen. Für geistig Behinderte ist sie besonders hoch. Integrationsklassen haben noch immer den Status eines Schulversuchs. In der 13. Novelle des Schulorganisationsge-setzes ist zwar eine Erhöhung der Anzahl der Integrationsklassen von zehn auf 20 Prozent der bestehenden Sonderschulklassen vorgesehen. Der Aufnahme eines behinderten Kindes müssen jedoch Lehrer und Eltern jeweils mit Zweidrittel-Mehrheit zustimmen. Es soll noch immer El-teminitiativen geben, die sich dagegen erfolgreich zur Wehr setzen.

Erfolgreiche Selbsthilfe

Elternselbsthilfegruppen wie die Lebenshilfe hatten sich vorerst nur daher die Interessenvertretung geistig behindeter Mitbürger und ihrer Angehörigen zur Aufgabe gemacht. Interessenvertretung sowohl als Sprachrohr nach außen, als auch als Helfer und Berater für betroffene Familien.

Erst durch den akuten Mangel an

Förderplätzen ergab sich die Tätigkeit als privater Träger von Kindergärten, Beschäftigungs-therapie-Werk: statten, Lehrwerkstätten und Wohnhäusern. Einige Absolventen der Lehrwerkstätte können nach der Ge-sellenprüfung erfolgreich in den freien Arbeitsmarkt integriert werden.

Obwohl sich neben der Lebenshilfe noch andere Vereine wie .Jugend am (Petri) Werk", „wiener

Sozialdienste" oder die „Karl-Schubert-Schule" ähnliche Ziele gesetzt haben, ist Rosa Prinz von der Lebenshilfe Wien überzeugt, daß jeder dieser Vereine bereits zu groß ist. „Es sollten neue Träger kommen. Bei uns wird es schon zu bürokratisch."

Dezentralisierung

Der Grundgedanke der Dezentralisierung zieht sich auch hier als Lösungsansatz durch die einzelnen Bereiche. Eine verstärkte administrative und psychologische Hilfe für die betroffenen Familien, kleinere Integrationsklassen und betreute Wohngemeinschaften würden das Leben des einzelnen behinderten Menschen erleichtem.

* Name von der Redaktion geändert

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