Der tägliche Sport beim Anziehen

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Bauhindernisse, Bürokratie und gesellschaftliche Vorurteile machten lange Zeit Behinderten das Leben schwer. Erst durch Selbsthilfegruppen konnte mühsam die politische und gesellschaftliche Anerkennung und mehr Verständnis für ihr Schicksal erreicht werden.

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Bauhindernisse, Bürokratie und gesellschaftliche Vorurteile machten lange Zeit Behinderten das Leben schwer. Erst durch Selbsthilfegruppen konnte mühsam die politische und gesellschaftliche Anerkennung und mehr Verständnis für ihr Schicksal erreicht werden.

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Ich bin behindert. Nicht irgendwie, sondern so richtig behindert: gelähmte Beine, Buckel, langsame Bewegungen, Unsportlichkeit. Immer wieder werde ich gefragt: "Betreiben Sie Sport?" Dann antworte ich: "Ja, ich ziehe mich jeden Tag alleine an." Was stimmt, denn wenn man 40 Minuten benötigt, um seine gelähmten Beine in die Stützapparate zu stecken und Hose sowie Schuhe darüber anzuziehen, bedeutet das (wenigstens für mich) eine gewisse sportliche Leistung" schreibt Franz-Joseph Huanigg, Mag. Dr. phil, Geburtsjahrgang 1966, in seinem im Drava Verlag erschienenen Buch "O du mein behinderndes Österreich".

Franz-Joseph Huanigg hat eine Bestandsaufnahme gemacht, die nicht nur von jenen verstanden wird, die mit Behinderten und mit der Behindertenbewegung zu tun haben. Er hat in "O du mein behinderndes Österreich" Texte zusammengefaßt, die auch Außenstehenden einen Einblick in die Lebenssituation behinderter Menschen vermittelt. Neben sehr persönlichen Schilderungen aus dem eigenen Lebensbereich (Huanigg ist seit einer Impfung im Babyalter an beiden Beinen gelähmt) läßt er Betroffene und Experten mit Erfahrungsberichten und Darstellungen zu Wort kommen.

Schubweise im Urlaub Huainigg geht es in erster Linie darum, die Behindertenbewegung von heute und den Entwicklungsweg der einzelnen Verbände, Vereine und Initiativgruppen darzustellen. Porträts behinderter Menschen aus der Bewegung ermöglichen einen zusätzlichen und hilfreichen Zugang zu den Problemen behinderter Menschen in Österreich.

Zu den sattsam bekannten Barrieren für behinderte Menschen im Arbeitsleben kommt heute erschwerend dazu, daß die Bedingungen am Arbeitsmarkt insgesamt härter geworden sind. So meint der heute 38jährige Michael, dem vor einem Jahr die Diagnose "Multiple Sklerose" mitgeteilt wurde, daß er noch mit niemandem darüber gesprochen hat, schon gar nicht mit seinem Arbeitgeber. "Wenn der das erfährt, bin ich sofort auf der Straße". Seit der ersten Diagnose hat sich die Krankheit bei ihm schubweise gemeldet. Und schubweise geht Michael daher auf Urlaub. Zur Zeit geht es ihm wieder besonders schlecht. Er liegt im Bett und kann sich kaum noch fortbewegen. In Zeiten jedoch, in denen Beschäftigte trotz Fiebers ins Büro gehen, aus Angst, sonst einfach "ausgetauscht" zu werden, traut sich Michael keinesfalls, einen Rollstuhl anzufordern oder sich gar beim Bundessozialamt als "Behinderter" einstufen zu lassen. Denn dann würde er ja der Randgruppe der "Behinderten", der "Minderleister" oder vielleicht sogar der "Sozialschmarotzer" angehören.

Warum haben Behinderte eigentlich Angst, zu den Minderheiten gezählt zu werden? Behinderte Menschen sind nun einmal eine Gruppe die unter den Minderheitenbegriff fällt. Ist das so schlimm? Der Begriff Minderheit ist weit gefaßt und folgt einer politisch-soziologischen Argumentationslinie: "Eine Minderheit ist eine Gruppe von Menschen, die aufgrund ihrer ethnischen, sozialen oder religiösen Zugehörigkeit Diskriminierung erfahren. Hierzu gehören die gesetzlich anerkannten Volksgruppen ebenso wie Migranten und Flüchtlinge, homosexuelle Männer und Frauen, Behinderte usw. Diskriminierung ist als Ausschluß von bestimmten Rechten zu sehen, sozial ist sie die Erfahrung von Vorurteilen und Ausgrenzungen."

Behinderte Menschen werden in Österreich zu den Minderheiten gerechnet, denn sie werden wesentlich von den sie umgebenden politischen, gesellschaftlichen und baulichen Strukturen "behindert" und damit auch diskriminiert.

Es war erst Ende der 70er Jahre, daß sich in Österreich an Bürgerrechtsfragen orientierte Behindertenbewegungen mit kleinen regionalen Selbsthilfegruppen zu entwickeln begannen. Die Gruppen entstanden damals aus Enttäuschung über die Politik der traditionellen Behinderten-Verbände (Kriegsopferverband, Zivilinvalidenverband). Damals wurde - abgesehen von einer gewissen Beteiligung an der Entwicklung des Invalideneinstellungsgesetzes - keine Politik mit strukturellen Forderungen gemacht.

"Lebensunwert" Die Lebenssituation von Behinderten in Heimen und Sondereinrichtungen wurde damals völlig ausgeklammert, Forderungen nach Integration waren unbekannt, es gab krasse Ungleichbehandlungen. Erst nach und nach begannen sich Selbsthilfegruppen zu formieren - anfangs nach dem Vorbild amerikanischer Bürgerrechtsgruppen.

Anhand des gar nicht so unwichtigen Details wie das Abflachen von Gehsteigen bei Fußgängerübergängen entstanden die ersten politischen Gehversuche in die richtige Richtung. Langsam aber stetig entstand ein neues Selbsbewußtsein, das die Rolle des Behinderten als Bittsteller abzulegen begann. Mitglieder von Selbsthilfegruppen wollten nicht mehr Mitleid oder Spende, sie verlangten soziale Rechte, gleiche Bürgerrechte und Selbstbestimmung. Behinderte begannen damals zu zeigen, daß sie selbst nicht behindert sind, sondern höchstens von Politikern, von der Bürokratie oder durch Vorurteile der Gesellschaft behindert werden. Mitte der 80er Jahre entstanden aus den Selbsthilfegruppen die Mobilen Hilfsdienste. Erst vor wenigen Jahren wurde aus der sogenannten "Krüppelbewegung" die "Selbstbestimmt-Leben-Initiative-Österreich (SLÖ), wobei schon allein die Namensänderung auf ein besseres Selbstbewußtsein schließen läßt.

Kurz nach dem Jahr der Behinderten (1981) mußten die Behinderten eine ihrer schlimmsten Erfahrungen machen: Es wurde die Frage nach "lebenswert" und "lebensunwert" aufgeworfen. Als Konsequenz des Jubeljahres wurde nun in gesundheitsökonomischem Gewand gefragt, wozu Behinderte eigentlich nützlich sind. Es entstand eine neue Lebenswert- und Euthanasiedebatte, begleitet von vielen verzweifelten Gegen-Aktionen verschiedener Selbsthilfegruppen. So haben die "Selbstbestimmt-Leben Initiativen" eine wichtige Themenführerschaft im Kampf gegen die von Peter Singer ausgelöste "Neue Euthanasiedebatte" oder die "Sterbehilfe"-Debatte übernommen.

Im Herbst 1966 veranstaltete der Verein "Integration: Österreich" ein Symposium mit dem Namen "Gleichberechtigt", bei dem es erstmals gelang, die zahlreichen Vereine und Initiativgruppen an einen Tisch zu beikommen und gemeinsam ein Konzept zur Realisierung eines "Antidiskriminierungsgesetzes" zu erarbeiten.

Keine Begeisterung In den vergangenen 24 Jahren ist zweifelsohne vieles gelungen, was die Lebensbedingungen behinderter Menschen in Österreich verbessert hat. Es sei nur auf die Bauordnung, das Antidiskriminierungsgesetz, das Pflegegeld und die Schulintegration hingewiesen.

Was Behinderte eher pessimistisch sehen, ist der Bereich der aktiven Mitarbeit. Viele Betroffene sind heute nicht mehr für die Gemeinschaft zu begeistern. Es wird immer schwerer, Menschen zur aktiven Mitarbeit zu gewinnen. Durch die wirtschaftliche Rezession ist heute sowohl die Bevölkerung als auch öffentliche Kostenträger nicht mehr im gleichen Umfang wie früher bereit, finanzielle Aufwendungen zu erbringen.

All jenen, die nicht täglich mit Behinderung zu tun haben, wird die Lektüre des Buches helfen, durch besseres Verstehen zu mehr Akzeptanz zu kommen - im Sinne eines konfliktfreieren Zusammenlebens zwischen Minderheiten und Mehrheit.

BUCHTIP "O du mein behinderndes Österreich! Zur Situation behinderter Menschen". Von Franz-Joseph Huainigg: Edition Minderheiten, Band 3. Hrsg. von Ursula Hemetek für die Initiative Minderheiten. Drava Verlag 1999, 232 Seiten, öS 285,- /e 20,71,

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