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Offenheit, die uns fehlt

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Eine Urlauberin aus Deutschland hat ihr Reisebüro geklagt, und schließlich eine hohe Entschädigung erhalten, weil sie in ihrem Ferienhotel eine Gruppe Behinderter antraf, deren Anblick ihr den Urlaub vergällt hatte.

Diese Einstellung zu jeglicher Art von Behinderung ist in unserer Gesellschaft sehr weit verbreitet. Trotz großer Fortschritte in der medizinischen und sozialen Vorsorge ist der Lebensweg geistig Behinderter daher auch heute noch keineswegs gesichert. Dennoch sind ihre Grundbedürfnisse die gleichen wie die der übrigen Menschen:

ein Zuhause, eine sinnvolle Beschäftigung, Möglichkeiten, die Freizeit zu gestalten.

In den letzten Jahrzehnten sind eine Reihe öffentlicher und privater Hilfsorganisationen ins Leben gerufen worden, die sich für die Förderung und Rechte der Behinderten einsetzen. Sie haben durch ihre Arbeit eine stille Revolution hervorgerufen.

Kinder, von denen man früher dachte, sie seien bildungsunfähig, sind zu Erwachsenen geworden, die in einer Hausversammlung darüber entscheiden, wie ihr Heim gestaltet werden soll.

Da ist etwa ein geistig behinderter junger Mann, der weder lesen noch schreiben kann. Er fand eine Anstellung in einem Fahrradgeschäft, wo er sich auf Reparaturen spezialisieren konnte. Er wurde sogar Mitglied des Fahrradvereines und wird dort voll akzeptiert, weil er in seinem Fach gut bewandert ist.

Nur allzu oft sind Menschen mit geistiger Behinderung wesentlich mehr darauf aus, ihr Leben erfüllt zu gestalten, als wir bereit sind, sie dabei zu unterstützen.

Helmut Spudich, der Sekretär des „Dachverbandes für Lebenshilfe“ sagt, daß wir noch nicht gelernt haben, uns die Frage zu stellen: Wo liegen die Fähigkeiten dieses Menschen und wie können sie gefordert werden? Darum ist ein Altersheim oder eine psychiatrische Anstalt sicher nicht der richtige Ort etwa für einen jungen behinderten Mann. Heute schiebt man ihn aber noch häufig dorthin ab.

Geistig Behinderte sind nicht heilbar, aber eine frühzeitig einsetzende Förderung kann zu einer besseren Entwicklung führen und damit mehr Selbständigkeit bringen. Doch Versäumnisse in den ersten Lebensjahren sind später kaum mehr wettzumachen.

Früher hat man bei geistig Behinderten nur gesehen, wo sie versagen. Heute aber entdecken wir Verhaltensweisen, die beispielgebend für unsere Gesellschaft sein können: Sie begegnen uns offen mit Vertrauen, Anteilnahme und Hingabe. Der Unterschied zu den Nichtbehinderten äußert sich nur in der Art und Weise ihrer Selbstverwirklichung.

Naturgemäß braucht der geistig Behinderte mehr Förderung, um seine Fähigkeiten zu entfalten und einer Arbeit oder Beschäftigung nachgehen zu können. Er ist heute nicht mehr dazu verurteilt, sein Leben nutzlos dahinzuvegetieren. Nach entsprechender Vorbereitung kann er in einer „geschützten Werkstätte“ oder sogar auf einem regulären Arbeitsplatz tätig sein.

Trotz einer deutlichen Änderung unserer Haltung im Umgang mit geistig behinderten Menschen in den letzten Jahrzehnten sind wir erst am Beginn, sie auch tatsächlich in unsere Gesellschaft zu integrieren. Viele müssen sich erst zu der Erkenntnis durchringen, daß auch geistig Behinderte Anrecht auf ein menschenwürdiges Leben haben und nicht in eine Anstalt abgeschoben werden wollen. Die Fachleute haben uns in den letzten Jahrzehnten den Weg gewiesen, es liegt nun an uns, sie als Mitmenschen anzunehmen.

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