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Die rücksichtslose Norm

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Behinderte werden behindert”: Unter diesem Mot-iofdas zugleich ein Aufschrei dieser benachteiligten Gruppe ist, luden am 16. Juli behinderte und alte Menschen zu einem Fest am Karlsplatz ein.

Unmittelbarer Anlaß war, daß sich die Gemeinde Wien nach langem Verhandeln kurz zuvor in der Sitzung des Normausschußes gegen Teile der behindertenfreundlichen Baunorm B1600 ausgesprochen hat. Somit wird die Norm in allen Bundesländern eingeführt - aber nur teilweise in Wien.

Sechs Monate nach dem „Jahr der Behinderten” ist nur mehr wenig von den schönen Worten geblieben. Die Rücksicht gilt den Kosten, nicht den Menschen.

Der allgemeine Abschnitt der Ö-Norm B1600, gegen der. die Gemeinde Wien Einspruch erhebt, würde sich nämlich auf alle Neubauten beziehen und unter anderem eine Mindesttürbreite von 80 sowie eine Liftbreite von 80 mal 135 Zentimeter und stufenlosen Zugang zum Lift vorsehen. -

Stadtrat Johann. Hatzi lehnte diese neue Baunorm mit dem Hinweis auf zu hohe Kosten ab. .Außerdem werden ja sowieso Behin-dertenwohnhausanlagen gebaut”, meinte er weiter.

Allerdings: Das ist es nicht, was alten und behinderten Wienern das Leben leichter macht. Denn sie wollen nicht in Ghettos abgeschoben werden.

So können Rollstuhlfahrer und Gehbehinderte Freunde und Bekannte in ungenormten Wohnbauten kaum besuchen. Ein anderer Aspekt ist, daß ein gesunder Mensen, der in einem Neubau wohnt, durch einen Unfall, Krankheit oder durch das Alter gehbehindert werden könnte. Zur psychologischen Belastung käme der nicht minder schwere Umzug aus der gewohnten Umgebung in ein extra für Behinderte geschaffenes Wohnhaus.

Körperbehinderte Kinder haben in Wien auch ein schweres Los. Es pibt kaum allgemeine

Schulen, in denen sich Behinderte ohne fremde Hilfe fortbewegen können. Aber gerade für körperbehinderte Kinder wäre es wichtig, sich nicht nur unter ihresgleichen behaupten zu können.

Es wäre auch zu erwähnen, daß es für Behinderte äußerst schwer ist, an einer kulturellen Veranstaltung teilzunehmen, da Theater und Oper für sie „unbezwingbare Burgen” sind. Sicher, die Adaption alter Bauten ist sehr kostenintensiv, aber das ist auch nicht das Hauptproblem der behinderten Wiener. Ihnen geht es hauptsächlich darum, nicht in Ghettos abgeschoben zu werden.

Aus Kostengründen kann sich nichts ändern? Dieses Argument wäre zu widerlegen. Ein Wiener' Architekt stellte dann folgende Rechnung an:

Zehn Prozent Mehrkosten verursacht ein Schallschutz (der in fast allen Neubauten installiert wird), acht Prozent kostet ein Wnrmeschutz mehr, fünf Prozent

Mehrkosten werden für bessere Küchen und Bäder aufgewandt und die rund zwei Prozent Mehrkosten, die durch Korruption und Bestechungen entstehen, sollten auch erwähnt werden. Dem gegenüber stehen nur 0,5 Prozent Mehrkosten für behindertengerechtes Bauen.

Einigung konnte aber über den zweiten Teil der Baunorm erzielt werden. Dieser bezieht sich auf Behindertenbauten und öffentliche Einrichtungen; er sieht vor, daß alle Räume stufenlos erreichbar und die Gänge 160 Zentimeter breit sind. Schalter, Tasten und Telefone sollen für Rollstuhlfahrer leicht erreichbar sein, mindestens ein Behinderten-WC soll geschaffen werden und Behindertenparkplätze müssen in größerer' Anzahl vorgesehen werden.

Sicher sind alle diese Punkte wichtig, das begrüßen auch die Betroffenen. Nur soll es um mehr als um Speziallösungen gehen — nämlich um Maßnahmen zur Integration der Behinderten ins alltägliche Leben.

Die Behinderten wollen als Gruppe in die Gesellschaft integriert werden, aber dazu brauchen sie die Möglichkeit, an dem Leben der Gesellschaft teilzunehmen. Durch die einfachen baulichen Maßnahmen für alle Neubauten wäre ein Weg gefunden, ihnen dabei zu helfen. Bedauerlich ist, daß die Gemeinde Wien gegen diese Lösung zu sein scheint.

„Es ist eine bekannte Tatsache”, klagt daher auch die „Aktion menschengerechtes Wien”, „daß speziell im Jahr der .Behinderten* keine Gelegenheit versäumt wurde, um für Behinderte Geld zu erbetteln. Eine Spendenaktion nach der anderen ist gelaufen. Derartige Aktionen (Stellen für uns eine Demütigung dar und verdrehen die Tatsachen”.

Und weiter: „Wir sind der Ansicht, daß Probleme der behinderten Menschen nicht Probleme sind, die behinderte Menschen an sich haben, sondern Probleme aller Menschen einer Gesellschaft. Wenn die Gesellschaft mit gewissen Bevölkerungsgruppen nicht zurecht kommt, so ist das nicht ein Problem dieser Gruppen, sondern das der gesamten Gesellschaft.”

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