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Nützen geht vor eigenem Nutzen

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Die österreichische Industrieverwaltungs-AG (ÖIAG) sorgt sich nicht nur um Arbeitsplätze und Marktpositionen, sondern forscht auch auf einem Terrain, wo man es am allerwenigsten vermuten würde: Sie sondiert den Bedarf nach Produkten für behinderte Konsumenten. Das vermutete Marktvolumen liegt bei zwei Milliarden Schilling jährlich.

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Die österreichische Industrieverwaltungs-AG (ÖIAG) sorgt sich nicht nur um Arbeitsplätze und Marktpositionen, sondern forscht auch auf einem Terrain, wo man es am allerwenigsten vermuten würde: Sie sondiert den Bedarf nach Produkten für behinderte Konsumenten. Das vermutete Marktvolumen liegt bei zwei Milliarden Schilling jährlich.

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Bücher, Statistiken, Tagungen und Aktionsprogramme theoretisieren im Bereich der Rehabilitations- und Behindertenforschung mit dem Begriff „behindertenfreundliche Produkte". Konkrete Zahlen darüber gibt es nicht.

Daher machte sich die ÖIAG-Ab-teilung für „Koordinierungs- und Rechtsangelegenheiten" auf die Suche. Der Leiter Helmut Strouhal: „Wir schauen uns auf diesem Gebiet alles an, auch wenn wir daraus nicht direkt Nutzen ziehen können." Motto: Den Behinderten nützen geht vor eigenem Nutzen.

„Zunächst wurde festzustellen versucht, was an Produkten dieser Bedarfsgruppe überhaupt auf dem österreichischen Markt ist: Dinge für den Haushalt, Möbel, Kleidung, Körperpflege, Hilfen zum Schreiben, Hören und Lesen, aber auch zum Greifen, Stützen, Fortbewegen", umreißt Amtsrat Alois Niederleithner die ersten Arbeiten.

Eine Sisyphusarbeit: Denn es gibt keinerlei detaillierte Statistiken, und die auf den Leistungsblättern der Sozialversicherungsträger gespeicherten Daten müssen durch reine „Kopfarbeit" zahlreicher Mitarbeiter erst entschlüsselt werden.

Entdeckt wurde bei diesem Unterfangen erst das Was, das Wieviel liegt noch im Dunkel. Die ÖIAG-Herren in der Wiener Kantgasse bedauern daher: „Wir können doch nicht mit einem derart wenig aussagekräftigen Konvolut zu einem Betrieb gehen und sagen: ,Geh, erzeug uns das.' Bei der ersten Frage nach dem Bedarf müßten wir passen. In dem Punkt stehen wir erst wieder am Anfang." Im Herbst will man versuchen, auch hier Antworten zu finden.

Eines steht fest: Es ist höchste Zeit, daß man sich in Österreich über diese Fragen den Kopf zerbricht.nicht zuletzt sind wir auch in diesem Bereich vielfach auf teure Importe angewiesen. Dabei mangelt es in Österreich sicherlich nicht an guten Ideen und . Kapazitäten.

Auch die Betroffenen selbst sind mit der gegenwärtigen Situation nicht gänzlich zufrieden. Der Behinderte als Verbraucher merkt erst beim Gebrauch, ob eine Hilfe tatsächlich für seine speziellen Bedürfnisse geeignet ist. Wenn das nicht der Fall ist, ist es oft schon zu spät: Eine

Rückgabe ist zumeist ausgeschlossen.

Daher verlangt der querschnittgelähmte Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft für Rehabilitation, Alfred H. Turnovsky: „Wir müssen als Benutzer dieser Hilfsmittel bei deren Gestaltung; bei der Auswahl, bei der auf Zweckmäßigkeit und Dauerhaftigkeit ausgerichteten Formgebung mitreden können, weil gerade das Dinge sind, die uns die Wiedereingliederung in den Arbeitsprozeß und die Teilnahme am Leben und an unserer Umwelt ermöglichen."

Wie groß die Palette behindertenfreundlicher Produkte ist, hat die österreichische Arbeitsgemeinschaft für Rehabilitation bereits im Vorjahr erhoben. „Das alles sind keine wohlgemeinten .Gaben', weil hier der Markt durch Serienproduktionen tatsächlich noch erschlossen werden kann", findet der ebenfalls körperbehinderte Generalsekretär der Arbeitsgemeinschaft, Heinz Schneider.

Großkippschalter, Drucktastengeräte und Fernsteuerungen werden von Behinderten ebenso nachgefragt wie Zusatzgeräte, etwa Handsteuergeräte für Personenkraftwagen, wie sie Beingelähmte benötigen, oder Trinkglashalter für Fingergelähmte. Benötigt werden aber auch behindertengerechte niveaugleiche Wohnungen, Bauten mit Rollstuhlzufahrten und Abstellplätzen.

Mehr Zielstrebigkeit in diesem Bereich könnte nicht nur den Behinderten das Leben leichter machen, auch für die Wirtschaft brächte das viele neue Impulse.

Mehr vorausschauendes Denken würde sich auch kurzfristig bezahlt machen: Eine behindertengerechte Wohnungsadaptierung kostet heute gut zwischen 60.000 und 240.000 Schilling. Käme die seit 1977 gültige önorm B 1600 beim Hausbau überall zur Anwendung, könnte bei Neubauten nur mit einem Bruchteil dieser Kosten vorgesorgt werden.

Dazu freilich müßten diese Maßnahmen in die Bauordnungen Eingang finden. Daß dies durchaus möglich und wünschenswert ist, hat Architekt Günther Feuerstein untersucht und festgestellt. Daher ist es nicht einzusehen, daß heute noch den Behinderten die Zukunft - im wahrsten Sinn des Wortes - verbaut wird.

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