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Behindertenbetreuung am Fall der Renate B. aus Wien

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Wenn die Neujahrsglocken 1981 das „Jahr der Behinderten” einläuten, werden Parteien, staatliche und private Institutionen massiv Sozialaktionen aus dem Boden stampfen. Schon seit Jahren mühen sich engagierte Sozialdenker um ein neues Bewußtsein in unserer Gesellschaft. Ihr Ziel: Die volle Integration der Behinderten in das tägliche Leben der Gesunden. Bis dahin ist noch ein weiter Weg, wie.der Fall der Renate B. zeigt. Daß bei einem solchen Schicksal einmal Angehörige die Nerven verlieren können, ist menschlich verständlich.

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Wenn die Neujahrsglocken 1981 das „Jahr der Behinderten” einläuten, werden Parteien, staatliche und private Institutionen massiv Sozialaktionen aus dem Boden stampfen. Schon seit Jahren mühen sich engagierte Sozialdenker um ein neues Bewußtsein in unserer Gesellschaft. Ihr Ziel: Die volle Integration der Behinderten in das tägliche Leben der Gesunden. Bis dahin ist noch ein weiter Weg, wie.der Fall der Renate B. zeigt. Daß bei einem solchen Schicksal einmal Angehörige die Nerven verlieren können, ist menschlich verständlich.

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Renate B.*), 36 Jahre alt, bezieht seit Oktober dieses Jahres eine Berufsunfähigkeitspension. Mit Rückwirkung vom 18. August 1978 sorgt die Pensionsanstalt der Angestellten für den monetären Lebensunterhalt einer jungen Frau. Um ihre Re-Integration in die Gesellschaft kümmert sich bislang offiziell keiner.

Seitdem 18. August 1978, als Renate auf einer Tanzveranstaltung mit dem Kopf gegen eine Säulenwand gestoßen war, sind sich Gehirnspezialisten und Psychiater uneinig, welche Therapieform für die Patientin anzuwenden sei.

Während der Seelendoktor neben einer neurologisch-psychiatrischen Betreuung die Behandlung im Rehabilitationszentrum (RZ) Meidling „für unbedingt notwendig hält” (siehe Faksimile oben), sehen die Meidlinger Hip-pokrates-JUnger die Sache anders (siehe Faksimile rechts oben). Nach der stationären Untersuchung im Zentrum konnten die Ärzte keine Unfallfolgen feststellen. Sie rieten dem Vater, seine

Tocher Renate psychiatrisch behandeln zu lassen.

Zwei medizinisch-therapeutische Gutachten, die einander widersprechen. Dazwischen die Kranke und ihre Angehörigen, die nicht wissen, wem sie glauben, was sie schließlich tun sollen.

In ihrer Verzweiflung beharren die Eltern auf einer einwöchigen Behandlung im RZ Meidling und negieren den Ratschlag zur psychiatrischen Betreuung. Der Leiter von Meidling wiederum will nicht entgegen seiner ärztlichen Uberzeugung therapieren.

So kommt es, daß Renate Heilgymnastik betreibt, sich einer Unterwassertherapie unterzieht, keiner Beschäftigung nachgehen kann und ansonsten kaum Kontakte mit der Außenwelt hat.

Die Eltern kümmern sich rührend um ihr Kind, der Vater erkämpfte ihre finanzielle Sicherung, für Renate ist es dennoch nicht genug. Wer sorgt sich um ihre psychische Verfassung? Es fehlen Außenkontakte, die Renate veranlassen könnten, eine psychiatrische

Therapie wenigstens zu versuchen und die Eltern auf eine solche Behandlung einzustimmen. Bloße Ratschläge von Haus- und Fachärzten haben bislang wenig genutzt. Die Familie konnte von der Wichtigkeit der Behandlung nicht überzeugt werden.

Zudem kümmert sich niemand um die Schaffung von Beschäftigungsmöglichkeiten, um Teilnahme an gesellschaftlichen Zusammenkünften, um Gedankenaustausch mit anderen Menschen.

Der Sozialstaat sorgt für den Lebensunterhalt seiner Behinderten, mit der menschlichen Betreuung steht es aber nicht immer zum Besten.

Seit einiger Zeit mühen sich freilich staatliche Institutionen und die große Oppositionspartei um Einrichtungen im Wierjer Raum, die auch im Individualfall greifen sollen.

Unter der Leitung des Chefarztes Stephan Rudas will das vor rund einem Jahr installierte Kuratorium für psychosoziale Dienste Abhilfe schaffen. Patienten- und bevölkerungsnah werden in acht Regionen der Hauptstadt teilklinische und ambulante Stationen errichtet, wo jeder Betroffene Rat und Hilfe finden wird (FURCHE 42/1980).

Rudas' Ziel: Jeder psychiatrische Dienst müsse vor allem die Familie und die nahe Umwelt des Patienten in die Betreuung miteinbeziehen.

Konkret plant der Psychiater lange Vorgespräche mit den Angehörigen, um später dann mit ihrer Hilfe die richtige Heilmethode bei den Betroffenen anzuwenden. Die Umwelt bleibt während der Dauer der Behandlung integriert.

Voraussetzung dafür freilich ist das Aktivwerden der Patienten oder ihrer Angehörigen. Sie müssen von sich aus in die Beratungsstelle kommen. Die Informationen sollen Hausärzte, Medien, Gesundheits- und Sozialdienste liefern. Uber „Essen auf Rädern”, Krankendienste, mobile Krankenschwestern sollen die Behinderten von der Hilfestellung in Kenntnis gesetzt werden.

Die Wiener Volkspartei ergänzt die. staatlichen Medizinziele mit einem Netz von Alternativ-Aktionen, das verstärkt auf Eigeninitiative abzielt.

Denn: Nicht Aktionen von oben könnten die psychische Gesundheit der Bevölkerung garantieren, sondern erst das aktive Mit- und Füreinander gebe dem einzelnen das Gefühl, gebraucht zu werden, Verantwortung zu tragen und damit Sinnvolles zu tun.

Die Wiener ÖVP will dazu animieren, sie stellt Räumlichkeiten und aufgeschlossene Animateure zur Verfügung.

Unter der Devise „Hallo, Nachbar”, wurde aber auch vor knapp einem Monat im dritten Wiener Gemeindebezirk das erste „Nachbarschaftszentrum” eröffnet. Engagierte Ideenbringer betreuen die Bevölkerung, ein reger Tauschhandel von Hilfestellungen hat Platz gegriffen.

Neben geselligem Beisammensein und Veranstaltungen bietet das Zentrum die Schaltstelle für den bezirksweiten Hilfsdienst. Jeder kann in diesem Treff deponieren, welche Hilfe er benötigt und welche Hilfe er selbst leisten kann.

Angepeilter Nebenzweck: Verstärkung der zwischenmenschlichen Kommunikation und Betreuung der Behinderten im Bezirk.

Für Renate B. wäre das Nachbarschaftsmodell eine Chance, in das Leben der Umwelt integriert zu werden. Überdies bestünde die Möglichkeit von seiten der Kommunikationsbetreuer, die junge Frau zu einer psychiatrischen Behandlung zu veranlassen.

Mangels Geld gibt es in Renates Wohnregion (15. Wiener Bezirk) leider noch kein solches Zentrum, allerdings bestehen konkrete Aussichten für die Errichtung einer zweiten Betreuungsstätte. Ein Lokal ist bereits vorhanden.

Die Beispiele machen Schule. Seit geraumer Zeit mehren sich Privatinitiativen im Bereich der Behindertenbetreuung. So etwa gründete ein Ehepaar eine Wohngemeinschaft, in der Mann und Frau die Behinderten persönlich betreuen werden.

Allmählich wächst auch in der Bevölkerung ein neues Bewußtsein. Behinderte Menschen sollen mehr und mehr in die Gesellschaft integriert werden und je nach ihren Fähigkeiten einen spezifischen Platz in der Gemeinschaft einnehmen.

Derzeit brennt dieses Licht noch mit kleiner Flamme, sodaß Menschen wie Renate B. durch den Rost der Institutionen fallen.

Dennoch stehen die Zeichen auf Fortschritt. Auch mit geringeren Finanzmitteln kann soziales Umfeld geschaffen werden. Phantasie, Anteilnahme und Eigenaktivität sind Eckpfeiler sozialer Modelle, gerade bei schlechter Kassenlage.

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