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Psychisch Kranke nicht unbedingt internieren!

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Sind Nervenkliniken tatsächlich die Heilanstalten für psychisch Kranke, oder sind sie vielmehr oft nur ein Ort, wohin Menschen gebracht werden, die für ihre Umwelt unverständlich und für die Gesellschaft nicht akzeptabel geworden sind, ein Ort mit wenig Chancen, in ein normales menschliches Leben zurückzukehren?

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Sind Nervenkliniken tatsächlich die Heilanstalten für psychisch Kranke, oder sind sie vielmehr oft nur ein Ort, wohin Menschen gebracht werden, die für ihre Umwelt unverständlich und für die Gesellschaft nicht akzeptabel geworden sind, ein Ort mit wenig Chancen, in ein normales menschliches Leben zurückzukehren?

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Professor Franco Basaglia, der kürzlich verstorbene Klinikvorstand des Triester Psychiatrischen Krankenhauses, hat sein Werk dem Durchbrechen dieser Tabus geweiht. Mit einigen engagierten Mitarbeitern hat er die sogenannte „offene Psychiatrie" eingeführt. Es wurden Wohnungen gemietet und die Kranken in kleineren Wohngemeinschaften untergebracht, wo sie ein normales, dem Alltagsleben angepaßtes Leben führen können.

Akute Patienten werden in den allgemeinen Spitälern behandelt. Zur späteren Betreuung wurde in den diversen Bezirken Zentren des psycho-sozialen Dienstes eingerichtet, in denen die Patienten nach ihrer Entlassung weiter betreut werden. In den Tavernen dieser Zentren, die für jedermann zugänglich sind, können die Patienten auch verköstigt werden.

Viele Widerstände mußten in der Bevölkerung überwunden werden, und noch heute gibt es darüber Diskussionen. Doch langsam lernt dort die Umwelt, daß psychisch Kranke meist ganz umgängliche Menschen und keine „wilden Tiere" sind.

Auch hierzulande setzen sich seit geraumer Zeit Ärzte und Pflegerdafür ein, neue Wege der Behandlung von sogenannten Geisteskranken zu finden, um ihnen ein menschenwürdigeres Leben zu ermöglichen und sie, so weit dies möglich ist, in ihre Umwelt zu integrieren. Im Juni dieses Jahres fuhr nun eine Gruppe von Ärzten, Pflegern und Patienten des psychiatrischen Krankenhauses Klosterneuburg - Gugging nach Triest. Wir sprachen mit dem Assistenzarzt Dr. Harald David, der maßgeblich an dem Unternehmen beteiligt war, über die Erfahrungen, die bei dieser Reise gewonnen wurden. Das Gespräch führte Linda Elias Blanco.

FURCHE: „Haben Sie hier in dieser Anstalt schon früher ähnliche Versuche gemacht, bevor sie dieses große Unternehmen starteten?"

DR. DAVID: „Ja, voriges Jahrhaben wir begonnen, Patientenurlaube auf einem Bauernhof im Waldviertel einzuführen. 15 chronisch Kranke, die schon viele Jahre im Spital sind, verbrachten mit zwei Pflegern dort ihre Ferien. Wir hatten so gute Erfolge, daß uns das zu weiteren Schritten ermutigte."

FURCHE: „ Wie viele Patienten und wieviel Pflegepersonal sind nach Triest gefahren?"

DAVID: „Der Direktor dieser Anstalt, Hofrat Alois Marksteiner, hat mit 20 Patienten, zwei Ärzten, einer Psychologin, einem Pfleger und einer Schwester diesen Ausflug unternommen."

FURCHE: „ Welche Patienten wurden für die Fahrt nach Triest ausgewählt?"

DAVID: „Zuerst mußten die Krankengeschichten genau studiert werden. Wir wählten Patienten aus, die als ver-trauenswürdigundberechenbarbekannt waren. Es waren Leute darunter, die 20 und 30 Jahre nicht die Anstalt verlassen hatten, Patienten mit den verschiedensten Diagnosen, jedoch solche, die mit den Pflegern auskommen und untereinander keine Aggressionen zeigten."

FURCHE: „Wo haben Sie in Triest gewohnt?"

DAVID: „InTriest waren wirallemit-sammen in einem slowakischen Studentinnenheim untergebracht. Es war eine Art Jugendherberge mit Acht-Bett-Zimmern. Die Patienten und alle Betreuer haben dort geschlafen. Unsere Mahlzeiten haben wir in einer Taverne eingenommen. Sie war eine Mensa des psychosozialen Dienstes. Dorthin können auch alle Kranken gehen, die nicht mit Geld umgehen können. Davor lag ein kleiner Park. Triestiner der Umgebung unterhalten sich dort oft mit den Kranken."

FURCHE: „ Was haben Sie in Triest unternommen?"

DAVID: „Anfangs mußten wir unsere Patienten ermuntern, sich frei zu bewegen und nicht am Gang stehenzubleiben, wie sie es vom Spital her gewohnt waren. Wir haben Ausflüge mit ihnen gemacht, sogar nach Grado und Venedig.

Wir haben uns wie normale Touristen die Stadt angesehen. Am ersten Tag haben wir noch sehr gut aufgepaßt, damit nichts passiert, und niemand verlorengeht. Auch an einem großen Sommerfest haben wir teilgenommen."

FURCHE: „Welche Erfahrungen haben Sie während der Reise gesammelt?"

DAVID: „Auf der Reise gab es keinerlei Hierarchie Arzt - Patient. Es mußten keine Befehle erteilt werden. Die Leute sind aufgeblüht, fröhlicher und freigebiger geworden. Wir haben erlebt, daß man Medikamente abbauen und durch persönlichen Einsatz und stärkere Zuwendung ersetzen kann.

Normalerweise wird der Kranke -nur weil zu wenig Betreuung vorhanden ist - medikamentös so beeinflußt, daß er nicht imstand ist, sich etwas anzu-tun. Wenn ich bei ihm bin, und ihn kenne, dann kann ich rechtzeitig sehen, wann ich helfend eingreifen muß.

Dann muß der Kranke nicht prophylaktisch den ganzen Tag in seiner Erleb-nisfähigkeit eingeschränkt werden."

FURCHE: „ Wie soll diese Erkenntnis nun ausgewertet werden?"

DAVID: „Wir wollen das Erlebnis vervielfachen. Möglichst viele Patienten und Pfleger sollen Ähnliches erleben können! Hier in der Anstalt in Gugging sind etwa 700 Patienten untergebracht. Konkret gesprochen, kämen etwa 20 % dieser Menschen für eine offene Betreuung schon heute in Frage. In der Öffentlichkeit aber sollte das Bewußtsein wachsen, daß diese Menschen nicht gefährlich sind, daß man mit ihnen umgehen kann."

FURCHE: „Werden Sie wieder nach Triest fahren?"

DAVID: „Das kommt auf die Möglichkeiten an. Vielleicht wird es einen Austausch mit den Triestinern geben, und sie kommen auf unseren Bauernhof. Wir möchten gern auch mit anderen Anstalten, etwa in der Bundesrepublik, Kontakt aufnehmen. Der Erfahrungsaustausch ist sehr wichtig."

FURCHE: „Werden Sie selbständig in dieser Richtung weiterarbeiten?"

DAVID: „Auf alle Fälle werden unsere Patienten turnusweise auf unseren Bauernhof ins Waldviertel zur Erholung geschickt. Ich selbst fahre nächste Woche allein mit zehn Leuten, ohne Pfleger für 'wei Wochen dorthin. In Niederösterreich versuchen wir auch an verschiedenen Orten psycho-soziale Zentren einzurichten. Wir haben bereits drei Ambulanzen aufgemacht. Dorthin können die Patienten zur Nachbehandlung kommen.

Wir würden auch ganz dringend Ubergangswohnheime brauchen, in denen die Patienten nach der klinischen Behandlung leben können. Auch Heimhilfen gibt es viel zu wenige. Wenn wir diesen psycho-sozialen Dienst vermehren, könnten die großen Anstalten wesentlich entlastet und damit verkleinert werden. Für viele Kranke würde damit das Leben wesentlich menschlicher und lebenswerter gestaltet werden können.

Dies bedeutet aber auch eine vollkommen neue Einstellung der Ärzte, des Pflegepersonals, vor allem aber der Umwelt gegenüber den psychisch behinderten Menschen. Wir alle müssen lernen, daß unsere Zuwendung, unsere Fürsorge, ja unsere Liebe die Anstaltsmauern sprengen können, daß wir es mit Menschen wie du und ich zu tun haben, die vor allem viel Zuwendung von uns brauchen."

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