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Die Methode der Gruppenarbeit

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Zweimal in der Woche tagt die Gruppe ungefähr eineinviertel Stunden in einem freundlichen Milieu, das den Kranken aus dem Spitalsalltag herausbringen soll. In Österreich werden derzeit in erster Linie Neurotiker und Geisteskranke im Anfangsstadium für die Gruppe ausgewählt, wobei zu beachten ist, daß das Intelligenzniveau der einzelnen auf ähnlicher Stufe steht. Die Zahl der Teilnehmer beläuft sich auf zirka sieben bis zwölf Patienten; man spricht von einer „offenen“ Gruppe, wenn die Patienten nach dem Verlassen der Klinik auch aus der Gruppe ausscheiden und die Lücke mit neuen gefüllt wird. Bei der „g e- schlossenen“ Gruppe müssen sich die Patienten verpflichten, an den Besprechungen mindestens drei Monate lang regelmäßig teilzunehmen; fällt ein Mitglied aus, so wird es nicht ersetzt, um die im Laufe der Zeit erlangte Homogenität der Gruppe nicht zu stören. Man erzielt dadurch eine tiefere Wirkung, die allerdings dafür nur wenigen zugute kommt.

Was geschieht nun in einer solchen Gruppe? In erster Linie haben die Patienten die Möglichkeit, Fragen zu stellen, und sie machen davon eifrig Gebrauch, denn über die Behandlung Gemütskranker herrschen bei Laien völlig falsche Vorstellungen, die deutlich das Gepräge unbewußter Angst tragen. Es wird beispielsweise über den Zweck der modernen elektrischen Durchflutung gesprochen (früher Schocktherapie genannt), über den Sinn der Insulinbehandlung, über die Lumbalpunktion, aber auch über Vererblichkeit von Geisteskrankheiten, über die Folgen von Geschlechtserkrankungen und über vieles andere. Es ist selbstverständlich, daß der Arzt hier unschwer suggestive und erzieherische Arbeit leisten kann.

Es ist hiebei vielfach der Zweifel zu hören, ob man mit dieser Methode die Kranken nicht zu Hypochondern erzieht. Aber jedem Arzt ist es bekannt, daß die Patienten ohnedies fast ausschließlich über ihre Krankheitsbilder sprechen; es ist daher vorzuziehen, daß dies kontrolliert in Gegenwart des Arztes geschieht, der hier manche falsche Einstellung korrigieren kann. Es mag dafür ein Beispiel gegeben werden: Während des Krieges fiel an einer Nervenklinik auf, daß fast alle Patientinnen plötzlich von einer schweren Depression befallen waren. Man ging der Sache nach, und es ergab sich, daß eine der Patientinnen das Wort „E-Schock“ (das ist eine klinische Abkürzung für Elektroschock) mißverstanden und das Wort „Eheschock“ zu hören geglaubt hatte. Es war dies die Zeit der Sterilisation von Geisteskranken, und die Kranken nahmen nun an, der E-Sdiock diene dazu, sie für die Ehe unbrauchbar zu machen. Eine Gruppenaufklärung über das Wesen’ der Elektroschockbehandlung ließ diese Angstneurose schwinden. Auf die Erfahrungen, die man mit solcher kollektiven Beruhigung machte, baut sich die Gruppenpsychotherapie auf.

Entscheidend ist das freie, aufgelockert Gespräch über alle interessierenden Probleme, denn dies bringt die so gewünschte Entspannung. Natürlich wird oft die Frage aufgeworfen, ob sich denn Geisteskranke an solchen Diskussionen beteiligen können. Dies ist, wenn der Ausbruch der Krankheit nicht zu weit zurückliegt, unbedingt zu bejahen. Ein wichtiges Moment, an dem nicht vorübergegangen werden darf, ist auch, daß viele sonst verschlossene Patienten im Anschluß an die Gruppe eine Einzelunterredung erbitten. Diese neue Verbindung „individuelle-kollektive Psychotherapie“ darf man für überaus hoffnungsvoll halten. Nicht anders als beim Schachspiel gibt es auch in der Seelenheilkunde einige genormte Eröffnungszüge. Der Patient hat nun bereits in der Gruppe gehört und auch teilweise begriffen, daß zum Beispiel eine klare Abrechnung eine gewisse Inventarisierung des Innenlebens an die Umwelt mit zu den Zielen der Psychotherapie gehört. Im Gegensatz zu der üblichen psychotherapeutischen Einzelbesprechung, bei der man sich erst ganz langsam vortasten muß, spricht der Patient, der schon durch die „Gruppenschulung“ gegangen ist, unter vier Augen sofort von der Schwierigkeit, über die er in der Gemeinschaft nicht berichten wollte. Schneller und leichter wird daher der tiefer Sinn des psychotherapeutischen Gesprächs sich bei verschiedenen Ärzten in psychotherapeutischer Behandlung, konnte sich aber nie entschließen, eiine Frage zu stellen, die sie zwar beschäftigte, ihrer Meinung nach aber zu ihrer Krankheit in keiner Beziehung stand. In der Gruppe lernte sie, daß jede Idee und jede Frage, die den Patienten bewegt, angeschnitten werden soll, ja, sie erfuhr noch mehr: nämlich daß diese, ihr nur so peripher erscheinende Schwierigkeit in Wirklichkeit den Kernpunkt ihrer Neurose darstellte.

In die Gruppe wird sinnvoll noch manche andere Sozialarbeit mit einbezogen. Es ist eine alte Erfahrung, daß auf Gemütskranke durch ernste Musik positiv eingewirkt werden kann. Es schadet gar nichts, wenn man sie im wahrsten Sinne des Wortes f „zu Tränen rührt“; in welcher Form der Patient aus sich herausgeht, ist nicht entscheidend, aber entscheidend ist es, daß er sich überhaupt seelisch angesprochen fühlt, daß die geistige Vereinsamung durchbrochen wird. Bewährt hat es sich auch, den Kranken im

Anschluß an die Grupp in Buch, das der Arzt igens für sie auswählt, zu geben. Dadurch wird eine nach- haltendere Beeinflussung erreicht, ab würden sie sich beliebige Lektüre aus der Anstaltsbibliothek entlehnen. Wiedererziehung zur geistigen Arbeit und Erweiterung des Horizonts gehört mit zu den Zielen der Gruppenpsychotherapie. Gelingt es, den Kranken die Angst vor der Nervenheilanstalt zu nehmen, so hat man einen entscheidenden Schritt vorwärts auf dem Gebiet der „Sozialen Psychotherapie“ getan.

Kürzlich sagte ein amerikanischer Nervenarzt: „Ich sehe den Tag kommen, wo sich die moderne Psychotherapie in erster Linie mit der Vorbeugung seelischer Erkrankungen und mit der Freizeitgestaltung („rehabilitation“) beschäftigen wird.“ Wir sehen; die Grenzen der Psychotherapie werden immer weiter gesteckt — es geht nicht nur um die „Therapie“, sondern die Seelenheilkunde kann zur Neugestaltung des Lebens und zur Welterkenntnis beitragen. Und Welterkenntnis ist ein Theben mit hundert Toren: durch welches Tor man eindringt, ist weniger wichtig, nur muß man überhaupt eindringen ...

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