Menschen, die in schwarzer Nacht stehen

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Nicht jeder der deprimiert ist, hat eine Depression. Ist jemand aber von einer solchen befallen, so ist er schwer krank. Da hilft kein: "Reiß dich zusammen!", wohl aber eine gezielte Behandlung. Und die istmeist erfolgreich ...

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Nicht jeder der deprimiert ist, hat eine Depression. Ist jemand aber von einer solchen befallen, so ist er schwer krank. Da hilft kein: "Reiß dich zusammen!", wohl aber eine gezielte Behandlung. Und die istmeist erfolgreich ...

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In mir ist alles tot, bald werde auch ich tot sein". So stand es im Abschiedsbrief eines kaum 20jährigen Mädchens, das mit seiner schweren Depression nicht mehr fertig wurde. Die Depression ist eine Volkskrankheit, die immer stärker zunimmt. Vielleicht aber hat die steigende Zahl von Kranken auch damit zu tun, daß die Diagnosemöglichkeiten verbessert werden und daß immer mehr Erkrankte den Arzt aufsuchen.

Ein Symposium der "Urania für Steiermark", veranstaltet auf Anregung der Grazer Universitätsklinik für Psychiatrie, stieß auf so großes Interesse, daß viele Besucher abgewiesen werden mußten. Man will dieser Krankheit nicht mehr hilflos gegenüberstehen, man will sie verstehen und den Betroffenen helfen.

Schon in der Antike kannten die Ärzte die Melancholie, die der große Arzt Hippokrates auf Überschuß von "Schwarzgalle" in den Körpersäften zurückführte. Dürer stellte die seelische Gebrochenheit des Leidenden in seinem bekannten Holzschnitt dar.

Die Depression hat nichts mit alltäglicher Traurigkeit zu tun, sei diese auch noch so stark. Sie ist eine psychische Situation, die über alles hinausgeht, was dem Gesunden vorstellbar ist. Im Mittelpunkt der Symptome steht die emotionale Herabgestimmtheit, die Antriebslosigkeit, eine Art seelische Versteinerung.

Ständige Angst und Schuldgefühle Konzentrationsfähigkeit und Gedächtnisleistung sinken, dazu kommen heftige vegetative Symptome von Herz-Kreislaufschwierigkeiten bis zu Appetit- und Schlafstörungen. Die stärkste psychische Belastung aber kommt von ständiger Angst, von Schuldgefühlen und Versündigungsideen.

Man erwartet vom Leben nur noch Schwierigkeiten und Enttäuschungen, kann sich aber nicht aufraffen, etwas dagegen zu unternehmen. Man sieht sich in einer schwarzen Nacht stehen, ohne Hoffnung auf einen Lichtstreifen. Die Gedanken beginnen sich im Kreis zu drehen, in dessen Mittelpunkt oft der Tod steht. Selbstmord wird dann als der einzige Ausweg gesehen.

Man sollte in diesem Zusammenhang nicht von Freitod sprechen. Freiheit setzt Wahlmöglichkeit voraus, doch gerade diese ist dem Kranken verschlossen. Er will gar nicht aus dem Leben scheiden, sondern aus einer für ihn qualvollen Situation.

Über die Entstehung dieser Krankheit ist man heute anderer Meinung als noch vor gar nicht so langer Zeit. Hielt man früher einzig und allein körperliche Faktoren für die Ursache, so bezieht man heute psychosoziale Situationen ein. Meist entsteht die Depression aus einem Netz von Faktoren.

Da ist zunächst eine genetische Disposition, die zu einer bestimmten Persönlichkeit führt. Solche Menschen sind leicht aus dem seelischen Gleichgewicht zu bringen, haben wenig Selbstvertrauen und nur geringes Durchsetzungsvermögen. Körperliche Erkrankungen bilden eine zusätzliche Belastung. Dazu kommen in vielen Fällen ungünstige Umweltbedingungen und Konflikte im sozialen Umfeld.

Jedes Erlebnis, jede Handlung, jeder Gedanke des Menschen führt aber zu neurobiologischen Veränderungen im Gehirn. Leben bedeutet immer Stoffwechsel im Gehirn. Aus diesem Grund kann man die Depression mit Medikamenten beeinflussen. Noch in unserem Jahrhundert waren dämpfende Drogen wie Opium, Bromide oder Paraldehyd die einzige Möglichkeit, und man konnte nur abwarten, bis der medikamentös beruhigte Patient aus der Depression auftauchte. Von 1938 an kam es zu einer Revolution in der Behandlung mit Medikamenten.

Mit Anti-Depressiva konnte man depressive Stimmungen aufhellen und ängstliche Gespanntheit lockern. Tranquilizer erleichtern das psychische Leiden. Der holländische Psychiater Piet C. Kuiper war selbst an Depression erkrankt. Er hat seine Erfahrungen in einem Buch niedergelegt, in dem er schreibt: "Mir wurde ganz plötzlich klar, daß sich in mir eine Veränderung vollzog, daß ein Prozeß in Gang gekommen war: der Übergang von der Erfahrung ,ich bin in der Hölle' zu einem erträglichen Leben."

Der Psychiatrie steht heute eine ganze Reihe hochwirksamer Medikamente zur Verfügung. Dazu gehören auch solche auf pflanzlicher Basis, wie etwa das Johanniskraut. Für homöopathische Mittel oder für die heute so oft propagierten Bachblüten ist keine Wirkung nachweisbar. Aber die hochwirksamen Medikamente haben einen Nachteil: Sie sind teuer, daher müssen sie vom Chefarzt der Krankenkassen in jedem Fall bewilligt werden.

Früher war die Psychiatrie ein ausgesprochen billiges Feld, heute verlangen Medikamente und Psychotherapie beträchtliche finanzielle Mittel. Anti-Depressiva aber sollten in fast jedem Fall von Psychotherapie unterstützt werden. Die Methode kann aus der Tiefenpsychologie, aus der Verhaltenstherapie oder aus der kognitiven Psychologie kommen.

Sich selbst die Latte zu hoch legen Das tiefenpsychologische Verfahren ist fast immer eine Einzeltherapie. Sie besteht im Bewußtmachen verdrängter Konflikte und früherer, krankmachender Erlebnisse. Dabei erkennt der Patient auch oft, daß er übermässig strenge Anforderungen an sich selbst stellt. Er will perfekt sein, erlebt gerade dadurch seine Unvollkommenheit, reagiert mit Schuldgefühlen und verstärkter Depression.

Die kognitive Therapie setzt es sich zum Ziel, solche negativen Denkmuster durch positive zu ersetzen. Die Verhaltenstherapie schließlich versucht in kleinen Schritten den Patienten dazu zu bringen, wieder eigene Entschlüsse zu fassen, sie auszuführen und dadurch der immer wieder erlebten Hilflosigkeit zu entgehen. Zu diesen Einzeltherapien kommt eine ganze Anzahl von Behandlungen in der Gruppe, wie Sport, Entspannung, Musik, Tanz, Malen und immer wieder das Gespräch unterstüzt von Meditation und Gebet.

Eine neue Therapie beruht auf der Wirkung des Lichtes auf die Psyche. Schon 1827 erkannte man den Zusammenhang zwischen Jahreszeit und psychischer Erkrankung. Heute spricht man von der "Herbst-Winter-Depression". Sie ist in den Monaten Jänner und Februar am stärksten und zeigt sich in Energielosigkeit, Heisshunger auf Kohlehydrate, Tagesmüdigkeit und ängstlicher Stimmung. Sie führt zu Schwierigkeiten am Arbeitsplatz und in den sozialen Beziehungen. Diese Form der Depression tritt bei den Betroffenen regelmäßig jeden Winter auf und verschwindet im Frühling.

Schon 1910 stellte man die günstige Wirkung von Licht auf Melancholie fest und erklärte diesen Effekt durch den Einfluß des Lichtes auf die Haut. Heute ist man der Ansicht, daß starkes Licht - man arbeitet mit einer Beleuchtungsstärke von bis zu 10 000 Lux - von den Augen aufgenommen wird und den Stoffwechsel im Gehirn beeinflußt. Noch ist dieser Fragenkomplex umstritten, doch wird auf dem Gebiet der Lichttherapie eifrig geforscht.

Depressionen können in jedem Alter auftreten. Bei Kindern kommt es zu Verhaltensstörungen, sozialem Rückzug, Schulversagen und körperlichen Beschwerden. Die heute bei Pubertierenden, besonders bei Mädchen häufigen Eßstörungen können ebenfalls eine Depression als Grundlage haben (siehe auch Beitrag Seite 5).

Im Alter kommen zu vielleicht schon länger bestehenden ungünstigen Persönlichkeitsfaktoren noch externe Schwierigkeiten. Das Ende des Berufslebens bringt Vereinsamung und Einschränkung der Aktivität, die Familie hat sich aufgelöst, dazu kommen altersbedingte Krankheiten und Schmerzen. Verarmungsangst und Mißtrauen gegen andere Menschen verstärken die Vereinsamung. Verringerung der Bewegungsmöglichkeit und Nachlassen der Konzentrationsfähigkeit verringern die körperliche und psychische Aktivität. Die Umgebung ist schnell mit dem Urteil "Alterskrankheit" zur Hand, womit die Demenz gemeint ist oder im schlimmsten Fall die gefürchtete Alzheimersche Krankheit.

Ein Leiden, über das man reden kann Gegen letztere gibt es heute wirklich noch keine Hilfe. Eine Depression ist aber in jedem Fall behandelbar. Vielleicht ist sie nicht völlig heilbar. Fast immer aber kann eine gezielte Behandlung den Zustand soweit verbessern, daß ein sinnvolles Leben wieder möglich wird.

Unsere Gesellschaft ist gerade dabei, ihre Einstellung zur Depression zu ändern. Es ist noch gar nicht so lange her, daß diese Krankheit entweder nicht ernst genommen ("Reiß dich endlich zusammen!") oder schamhaft verschwiegen wurde. Heute ist man viel eher bereit, sie als das zu akzeptieren, was sie ist: Ein Leiden, an dem niemand Schuld ist, über das man offen reden kann.

Aber eine Einschränkung ist zu machen: Jede Therapie ist ein Experiment mit ungewissem Ausgang, denn jeder Mensch ist einzigartig und in seinen Reaktionen auf therapeutische Maßnahmen nicht mit Sicherheit vorauszusagen. Die Erfolgsrate ist aber so hoch, daß es unmenschlich wäre, den Kranken ohne Behandlung seinen Qualen zu überlassen. Bei entsprechender Behandlung hätte das junge Mädchen seinen erschütternden Abschiedsbrief nicht schreiben brauchen.

Die Autorin ist freie Journalistin.

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