long covid - © Foto: Lea Aring

Long Covid und ME/CFS: Plötzlich Stille

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Long Covid und seine Folgeerkrankung ME/CFS sind weitverbreitet. Vor allem junge Frauen mit Kindern fühlen sich mit der Diagnose oft im Stich gelassen.

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Long Covid und seine Folgeerkrankung ME/CFS sind weitverbreitet. Vor allem junge Frauen mit Kindern fühlen sich mit der Diagnose oft im Stich gelassen.

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Wenn Regina Zauchner ihrer Tochter das Mittagessen zubereitet hat, ist ihre Energie zu Ende. Es bleibt keine Kraft mehr übrig, gemeinsame Ausflüge zu machen, die Wohnung zu saugen oder sich in der Dusche die Haare zu waschen. Die 37-Jährige hat ME/CFS, das Chronische Fatigue-Syndrom, eine Erkrankung, die häufig als Folgeerscheinung von Long Covid auftritt.

Die Symptome, die Zauchner erlebt, haben aktuell viele. 17 Millionen Menschen sind in Europa von Long Covid betroffen, gibt die Weltgesundheitsorganisation im September dieses Jahres bekannt. Schätzungen der Österreichischen Gesellschaft für ME/ CFS, kurz CFS-Hilfe, zufolge liegt die Zahl der an ME/CFS Erkrankten hierzulande zwischen 26.000 und 80.000 Menschen. Genau lässt sich das nicht sagen. Die Dunkelziffer ist hoch, weil es an Wissen über die Erkrankung mangelt. Vor allem junge Frauen sind laut einer Studie der Berliner Universitätsmedizin von Long Covid betroffen. Weil gerade diese Gruppe vielen Studien zufolge einen Großteil der Pflegeverantwortung übernimmt, hat die Diagnose auch für Kinder schwerwiegende Folgen.

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Als Sarah Kanawin im Sommer 2020 an Covid-19 erkrankt, arbeitet die damals 35-Jährige gerade in zwei Teilzeitjobs, sie ist Vereinsobfrau und schreibt an einer Dissertation in audiovisueller Zeitgeschichte. Abends geht sie gerne ins Theater, an Wochenenden macht sie Sport. „Ich war ein sehr umtriebiger Mensch“, sagt Kanawin.

Covid-19 ist zu jenem Zeitpunkt weitverbreitet, und Impfungen gibt es noch keine. Als sich Kanawin infiziert, sprechen die Ärzte von einem milden Verlauf. Für Kanawin fühlt er sich nicht mild an. „Ich kann mich an eine ganze Woche kaum erinnern, weil ich so hohes Fieber hatte“, erzählt sie. „Noch nie in meinem Leben war ich so krank.“ Kanawins Beine, Füße und Zehen schmerzen, und auch nach mehreren Wochen, als die erhöhten Temperaturen längst verschwunden sind, vergehen die Schmerzen nicht.

Über Monate hinweg ist Kanawin erschöpft, ihre Beine tragen sie stets nur wenige Schritte. „Ich habe meinen Job geschafft, aber sonst nichts mehr“, erzählt sie. Wenn sie abends von der Arbeit nach Hause kommt, legt sie sich direkt hin, ihre Freundinnen sieht sie kaum noch. Kanawin sucht mehrere Mediziner(innen) auf. Diese diagnostizieren psychosomatische Beschwerden und raten ihr, sich zu bewegen. Also geht Kanawin spazieren.

Jeden Tag ein Stück weiter, in der Hoffnung, sich wieder Energie anzutrainieren. Rund um Weihnachten geht sie wandern. Das ist fatal. Denn während Bewegung bei psychischen Beschwerden lindernd wirken kann, fördert sie bei ME/CFS einen erneuten Krankheitsschub, wie Jennifer Blauensteiner, die an der FH Joanneum in Graz Long Covid beforscht, erklärt.

Es war mir früher wichtig, eine selbstständige Frau zu sein. Heute kann ich allein nicht überleben.

Drei Monate verbringt Kanawin anschließend im Bett und auf dem Sofa, die Fenster der Wohnung abgedunkelt, weil das Licht in ihren Augen schmerzt. Sie schafft es kaum, fernzusehen oder zu telefonieren. „Es war, als wäre ich betrunken gewesen und hätte gleichzeitig eine massive Grippe gehabt“, sagt Kanawin. „Alles tut weh und nichts funktioniert, wie es soll.“

Häufige Fehldiagnosen

Symptome von Long Covid verlaufen unterschiedlich. Jennifer Blauensteiner berichtet von Atemlosigkeit, Herzmuskelproblemen und dem sogenannten Brain Fog, einem Zustand, bei dem Konzentration kaum gelingt, die einfachsten Dinge in Vergessenheit geraten und sich das Leben anfühlt wie in Watte gepackt. Nicht alle Menschen, die Long Covid haben, erkranken auch an ME/CFS. „Wie hoch der Prozentsatz ist, darüber scheiden sich die Geister“, sagt Blauensteiner.

Manche sprechen von 20 Prozent, andere von 50. Fakt ist: ME/CFS bedeutet Erschöpfung. Für manche mehr als für andere. „Wer seinen Job noch machen kann, hat eine milde Ausprägung“, sagt die Biomedizinerin. Auch wenn das Privatleben dann flachfällt. Doch die Krankheit verlaufe meist schubweise, nicht selten würden Patient(inn)en bettlägerig. Depressionen seien häufige Folgen, suizidale Gedanken laut CFS-Hilfe weitverbreitet.

Als Kanawin eines Tages im Fernsehen einen Bericht über Long Covid und ME/ CFS sieht, ahnt sie, dass das auch ihre Diagnose ist. Sie kontaktiert die Ärztin, die im Zuge der Fernsehsendung interviewt wurde und bekommt ihren Verdacht bestätigt. „In Österreich brauchen Betroffene etwa fünf bis acht Jahre, um ihre zutreffende ME/CFS-Diagnose zu erhalten“, schreiben die Vertreter(innen) der CFS-Hilfe in ihrer Petition um Anerkennung der Erkrankung.

Blauensteiner zufolge ist das deshalb besonders problematisch, weil davon ausgegangen wird, dass die Krankheit nur im ersten Jahr wieder vergehen kann – sofern keine falschen Behandlungsschritte gesetzt werden. Bekommen die Patient(in­n)en im ersten Jahr Fehlinformationen, so wie es bei Karawins Empfehlung zur Bewegung der Fall war, ist die Chance vertan. Das ist fatal, weil es bisher kein Medikament und auch sonst keine Therapien gegen die Erkrankung gibt.

„ME/CFS ist kein Thema in der medizinischen Ausbildung“, sagt Blauensteiner. Sie selbst habe ihr Interesse für die Beforschung der Krankheit auch erst durch Zeitungsberichte entdeckt. Es mangele an Geld für Forschung, wodurch das Wissen über die Diagnose nur sehr langsam vermehrt werden könne. Dadurch komme es häufig vor, dass Allgemeinmediziner(innen) psychische Erkrankungen diagnostizieren, obwohl ME/CFS eine organische Erkrankung ist, wie bereits mehrere internationale Studien belegen.

Parentifizierung nennt sich das Phänomen, bei dem Kinder Aufgaben ihrer Eltern übernehmen müssen und dabei eigene Entwicklungsschritte aus den Augen verlieren.

„Gott sei Dank ist meine Tochter mit sieben Jahren schon sehr rücksichtsvoll“, sagt Regina Zauchner, die nach einer Infektion mit dem Pfeifferschen Drüsenfieber an ME/ CFS erkrankt. „Dieses Foto zeigt mich mit 18 Jahren und ist vermutlich das letzte Bild, das mich als gesunden Menschen zeigt“, schreibt die Steirerin auf Twitter über einem Foto einer jungen Frau, die in sportlicher Kleidung auf einem Felsen steht. Mit Mitte 20 schafft Zauchner es kaum noch, ihr Botanik-Studium zu beenden. Ihr Hausarzt diagnostiziert psychische Belastungen. Zauchner bringt ein Kind zur Welt, ehe sie ihre korrekte Diagnose erhält und erfährt, dass sich ihr Zustand nie wieder bessern würde. „Ich kann nur das Nötigste für meine Tochter tun“, sagt die 37-Jährige. Sie kocht ihr Essen und hilft ihr bei den Hausaufgaben. Für größere Aktivitäten fehlt ihr meist die Kraft.

Kraftlose Mütter

Indes mehren sich in Social Media Berichte von Müttern, die überhaupt keine Kraft mehr für die Sorge ihrer Kinder haben. Plötzlich schmeißen Kinder den gesamten Haushalt. Parentifizierung nennt sich das Phänomen, bei dem Kinder Aufgaben ihrer Eltern übernehmen müssen, dabei eigene Entwicklungsschritte aus den Augen verlieren, weil es zu wenig Unterstützung gibt.

„Durch die fehlende Anerkennung von ME/CFS muss jede Sozialleistung mühsam erkämpft werden“, schreibt der Neurologe Michael Stingl, der unter Patient(inn)en oft als einziger praktizierender Experte für die Erkrankung gilt, in der Petition der CFS-Hilfe. „Die Einschätzungen der Sozialversicherungsträger stehen oft im diametralen Gegensatz zur Realität der kranken Menschen.“ Während Betroffene anderer Krankheiten beispielsweise persönliche Assistenz in Anspruch nehmen können, stehen die Chancen bei Long Covid und ME/CFS schlecht. In der Pflege des eigenen Kindes ist dann auf Unterstützung im privaten Umfeld zu hoffen. Wer alleinstehend sein Kind erzieht, ist im wahrsten Sinne des Wortes auf sich allein gestellt. Davon berichtet auch Regina Zauchner.

„Unser Gesundheitssystem lernt gerade mit den vielfältigen Folgen der Corona-Pandemie umzugehen. Dazu gehört auch eine bestmögliche Versorgung von Long-Covid-Betroffenen“, erklärt Gesundheitsminister Johannes Rauch im September auf jenem österreichischen Long-Covid-Symposium, auf dem nationale und internationale Expert(inn)en Erfahrungen austauschen und weitere Maßnahmen diskutieren.

In einem ersten Schritt sollen Hausärzte ihre Kompetenzen rund um die Erkrankung erweitern, um als erste Anlaufpersonen rasch reagieren zu können. Das sei jedoch aufgrund der fehlenden Forschung eine Herausforderung, lautet es seitens des Gesundheitsministeriums, und auch der österreichische Dachverband der Sozialversicherungsträger begründet die bemängelten Versorgungsstrukturen auf gleiche Weise. Einstweilen soll ein neues Web-Tool Mediziner(innen) helfen, Überblick über neues Wissen zu erhalten und rasch richtige Behandlungsschritte zu setzen.

Nach mehreren Begutachten ihrer Situation erhält Sarah Kanawin einen Rollstuhl. Zu Hause helfen ihr nun Freundinnen und ihr Partner bei jenen Dingen, die Kanawin früher wie selbstverständlich allein tat. „Es war mir früher wichtig, eine selbstständige Frau zu sein. Heute kann ich allein nicht überleben.“ Regina Zauchner ist heute in Bildungskarenz – eine Notlösung, wie sie sagt, weil sie ihre Arbeit als Behindertenbetreuerin kaum noch stemmen konnte. Weil ihre Tochter psychische Folgeprobleme entwickelt, unternehmen heute Mitarbeitende der Caritas zweimal in der Woche Ausflüge mit dem Kind. Die Situation ist schwierig, doch Zauchner schätzt sich glücklich: Sie habe nur die milde Form der Erkrankung erwischt.

Fakt

Was ist ME/CFS?

Die Myalgische Enzephalomyelitis bzw. das Chronische Fatigue-Syndrom ist eine schwere, neuroimmunologische und chronische Multisystemerkrankung, die als Folge von Infekten und Viren wie dem Epstein-Barr-Virus und Covid-19 auftritt. Sie zeigt sich in Form von Störungen beispielsweise im Immun-, Nerven-, Kreislaufsystem. Das Hauptsymptom bildet dabei die sogenannte Post-Exertional Malaise, also die Zustandsverschlechterung nach körperlicher oder mentaler Anstrengung. In Österreich befinden sich laut der Österreichischen Gesellschaft für ME/ CFS etwa 26.000 bis 80.000 Betroffene, von denen rund 70 Prozent nicht mehr arbeitsfähig und weitere 25 Prozent an Haus oder Bett gebunden sind. Eine öffentlich finanzierte, medizinische Anlaufstelle gibt es bislang nicht.


Hier finden Sie Unterstützung und Information:

Die Petition der CFS-Hilfe können Sie hier unterschreiben.

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