"Prävention ist NICHT NUR GUT"

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Der Internist Martin Georg Millauer und der Public Health-Experte Martin Sprenger über die Ambivalenzen von Vorsorgeuntersuchungen, Krebs-Früherkennung und Cholesterin.

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Der Internist Martin Georg Millauer und der Public Health-Experte Martin Sprenger über die Ambivalenzen von Vorsorgeuntersuchungen, Krebs-Früherkennung und Cholesterin.

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Im Parterre des roten Hauses am Hauptplatz der steirischen Marktgemeinde Stainz ist das Restaurant "Casa rossa" beheimatet -und im ersten Stock die Praxis des Internisten Martin Georg Millauer. Ohne Lift, wohlgemerkt. "Die Atemfrequenz meiner Patienten ist schon das erste Diagnosekriterium", scherzt Millauer, der nicht nur Vorsorgereferent der Österreichischen Ärztekammer ist, sondern als Arzt mit kleinen Kassen (und Wahlarzt der Gebietskrankenkasse) jährlich rund tausend Gesundenuntersuchungen durchführt. Auf Einladung der FURCHE hat er mit dem Grazer Public Health-Experten Martin Sprenger über Sinn und Unsinn der hiesigen Präventions-Politik debattiert - und immer mehr Gemeinsamkeiten gefunden.

DIE FURCHE: Vorsorge und Früherkennung sind die neuen Zauberwörter -bei der laufenden Gesundheitsreform ebenso wie im Regierungsprogramm. Dazu kommt seit 1. Jänner ein Brustkrebs-Screening und ab 1. Februar die kostenlose HPV-Impfung zur Vorbeugung von Gebärmutterhalskrebs. Sind Sie summa summarum zufrieden?

Martin Georg Millauer: Nicht ganz. Aus meiner Sicht sollte die Frequenz bei den Gesundenuntersuchungen noch deutlich zunehmen. Wir verzeichnen zwar österreichweit einen leichten Aufwärtstrend (auf derzeit jährlich 12,4 Prozent der relevanten Bevölkerung; Anm.), wobei ich das auf Kampagnen zurückführe und darauf, dass es durch die kostenlosen Untersuchungen bei Wahlärzten immer mehr Anbieter gibt. Doch ich würde mir wünschen, dass man die Leute auch verstärkt einlädt. 2005 wurde zwischen Hauptverband und niedergelassenen Ärzten vereinbart, dass die Gebietskrankenkassen bestimmte Zielgruppen -Menschen mit Migrationshintergrund, Männer über 50 oder Leute, die in den letzten fünf Jahren weder beim Arzt noch im Krankenhaus waren -regelmäßig einberuft, doch das ist vielfach ausgesetzt worden. Es "hypet" also nicht so, wie wir uns das wünschen.

Martin Sprenger: Das meiste Geld, das Österreich punkto Prävention investiert, nämlich fast 90 Millionen pro Jahr, fließt derzeit in Vorsorgeuntersuchung. Neben allem Nutzen gibt es hier aber sehr große Unterschiede in der Qualität. Das Entscheidende ist das Abschlussgespräch: Jene, die gesund sind, muss man motivieren, gesund zu bleiben -und darf sie nicht verunsichern; und jene, die ein erhöhtes Risiko haben, muss man motivieren, etwas zu ändern. Doch ich sehe die Gefahr, dass das oft unprofessionell gemacht wird. Dazu kommt, dass die Vorsorgeuntersuchung bei uns in der Luft hängt: Wenn man jemandem mehr Bewegung empfiehlt, dann gibt es in der Gemeinde oder am Arbeitsplatz nicht die entsprechenden Angebote. Bis jetzt konnte auch in keiner Evaluierung gezeigt werden, dass die Vorsorgeuntersuchung wirklich Erkrankungen verhindert bzw. die Sterblichkeit senkt.

Millauer: Diese Evaluierung ist auch sehr schwierig! Aber wenn ich bei einem Laborbefund sehe, dass jemand einen erhöhten Nüchternzuckerspiegel hat, dann kann ich ihm rechtzeitig sagen: Moment, wenn Sie so weitermachen, dann werden Sie zuckerkrank, blind oder auch impotent -das motiviert die Leute schon! Wichtig ist natürlich die Zielvereinbarung: Man muss mit jedem einen Deal ausmachen, etwa dass er sich wirklich mehr bewegt und auf Zucker oder weißes Mehl verzichtet. Die Sozialversicherungsanstalt der gewerblichen Wirtschaft belohnt ihre Versicherten sogar mit einer Halbierung des Selbstbehaltes, wenn sie diese Ziele nach sechs Monaten erreichen.

Sprenger: Von diesem Programm halte ich wenig, weil einige Komponenten nicht objektivierbar sind: Ich muss dem Patienten etwa glauben, dass er sich tatsächlich mehr bewegt -und dass er mich nicht belügt. Außerdem könnte das vertrauensvolle Arzt-Patienten-Verhältnis missbraucht werden, weil es plötzlich um Geld geht.

Millauer: Zumindest der Body-Mass-Index ist ein Kriterium, das objektivierbar ist. Aber es stimmt, dass manche dieser Patienten nur mehr den monetären Nutzen sehen und meinen, ich soll das Befundblatt jetzt so und so ausfüllen -was natürlich ein No-Go ist. Was meiner Erfahrung nach aber gut wirkt, ist, wenn ich die eigenen Patienten nach einem oder zwei Jahren einberufe -wie das Auto zum Pickerl. Da habe ich eine Response-Rate von 30 Prozent.

DIE FURCHE: Systematische "Einberufungen" gibt es nur bei der neuen Brustkrebs-Früherkennung, bei der alle Frauen zwischen 45 und 69 Jahren zweijährlich zur Mammografie geladen werden. Was halten Sie davon?

Sprenger: Es ist gut, dass man die Brustkrebs-Früherkennung in Österreich auf den internationalen Standard hebt -etwa indem künftig zwei unabhängige Befunder die Mammografie-Bilder anschauen müssen. Was ich aber nicht gut finde, ist, dass man bei der Information mit Angstmache arbeitet und den Nutzen nach vorne kehrt. Früherkennungsmaßnahmen können eben - wie alle präventiven Maßnahmen -auch einen Schaden haben, etwa Verunsicherung sowie unnötige Abklärungen und Medikamente. Der Nimbus, dass präventive Maßnahmen nur gut sind, ist also vollkommen falsch. Es geht immer um das Verhältnis von Nutzen und Schaden - und eine Optimierung schaffe ich nur über Qualität.

DIE FURCHE: Was ist potenziell schädlich an der Brustkrebs-Früherkennung?

Sprenger: Erstens gibt es immer falsche Verdachtsbefunde, die zu weiteren, physisch und psychisch belastenden Folgeuntersuchungen oder gar Eingriffen führen. Man sagt, dass solche falsch positiven Befunde fünf bis zehn Mal häufiger sind als richtig positive. Das zweite Problem ist die Überdiagnostik -wenn man etwa Krebsfrühstadien findet und behandelt, die für die Frau nie relevant geworden wären. Manche sagen, das seien bis zu 30 Prozent aller Fälle. Dazu kommt noch die Strahlenbelastung. All diese Infos muss man den Frauen geben, damit sie selbst entscheiden können.

Millauer: Also mich stört beim neuen Screening-Programm eher, dass ich Frauen nicht mehr aus der Ordination heraus zur Vorsorge-Mammografie schicken darf.

Sprenger: Eine Frau, die besorgt ist, weil ihre Tante Brustkrebs hat oder die einen Knoten ertastet, kann ich immer zur Mammografie schicken. Doch es gibt keine Evidenz, dass bei einem Screening aller 40-Jährigen der Nutzen den Schaden überwiegt.

Millauer: Aber es gibt auch den individuellen Nutzen. Davon abgesehen finde ich aber gut, dass die Frauen systematisch eingeladen werden. So etwas würde ich mir auch zur Früherkennung von Dickdarmkrebs wünschen, dem zweithäufigsten Karzinom sowohl bei der Frau wie auch beim Mann. Durch die Darmspiegelung, die derzeit im Rahmen der Vorsorgeuntersuchung bei Über-50-Jährigen alle fünf Jahre angeboten wird, kann man Polypen rechtzeitig entfernen. Das ist sehr effizient.

Sprenger: Ich bin auch optimistisch, dass man hier durch mehr Systematik das Versprechen einlösen kann, dass die Menschen durch Früherkennung länger oder besser leben. Einfach nur ab 50 alle fünf Jahre eine Darmspiegelung vorzuschreiben, würde ich aber nicht sinnvoll finden. Die Frage ist eher, ob der Hämoccult-Test (der nach verstecktem Blut im Stuhl sucht; Anm.) der richtige Test ist -und in welchem Intervall man ihn einsetzt. Dieses Intervall ist sehr wichtig: Beim Gebärmutterhals-Krebs etwa gibt es die Empfehlung, dass man anfangs drei Abstriche macht und bei negativem Ergebnis nur noch alle drei bzw. fünf Jahre. In Finnland macht man das so - mit den besten Ergebnissen in Europa. In Österreich machen wir aber jedes Jahr einen Abstrich, was die Zahl der falsch-positiven Befunde erhöht. Wir haben auch keine Doppelbefundungen. Warum schaffen wir es nicht, das auf einen höheren Qualitäts-Standard zu heben?

Millauer: Das wäre sicher erstrebenswert und würde auch Kosten reduzieren. Auf der anderen Seite hat das Zervix-Karzinom, das früher ein Killer war, durch diese Maßnahme an Gefahr verloren. Es gibt hier eben einen doppelten Boden: Auch bei der Vorsorgeuntersuchung empfehlen die ärztlichen Gesellschaften, alle zwei Jahre hinzugehen - und die Kassen zahlen es jährlich.

Sprenger: Ja, in Österreich werde viele unnötige diagnostische und therapeutische Leistungen bezahlt.

DIE FURCHE: Was ist mit der neuen kostenlosen Impfung gegen Humane Papilloma-Viren (HPV), die ab 1. Februar für alle Zehnjährigen zur Vorbeugung vor Gebärmutterhalskrebs finanziert wird?

Sprenger: Diese Impfung funktioniert an sich recht gut, nur arbeitet man wieder mit schlechter Information. Wir können etwa nicht morgen 400 Tote verhindern, sondern frühestens 2030 die ersten Fälle und am Ende dieses Jahrhunderts vielleicht 100.

DIE FURCHE: Werden die Menschen absichtlich verunsichert?

Millauer: Impfen ist ein sehr emotional besetztes Thema. Es gibt militante Impfgegner - darunter auch viele Ärzte, aber alle führenden Gesellschaften und Experten sagen: Impfung wirkt! Doch ich muss natürlich das Kosten-Nutzen-Verhältnis abwägen.

Sprenger: Impfen ist ein riesiger Markt, deshalb wird hier gepusht. Auch bei der Früherkennung gibt es ein großes Interesse der medizinisch-technischen Industrie. Die wahrscheinlich erfolgreichste Form der Krankheitsvorbeugung wird hingegen meist ausgeblendet, weil man damit kein Geld verdienen kann -nämlich eine Investition ins Bildungswesen und in die gesundheitsfördernde Gestaltung unserer Lebenswelten.

Millauer: Natürlich liegt in gesünderen Lebenswelten der Schlüssel. Wir wissen etwa, dass regelmäßige körperliche Bewegung Herzpatienten genausoviel bringt wie die drei oder vier Medikamente, die sie nehmen müssen. Aber sie bewegen sich nicht! Das ist eine Frage der Mentalität. Und zur Ernährung: Zwei Filets von der Bio-Forelle sind zudem unerschwinglich, aber eine Fertigpizza bekommt man schon um 90 Cent.

DIE FURCHE: Sollte der Staat hier nachhelfen - etwa durch eine Fettsteuer?

Sprenger: Dänemark hat eine solche Steuer 2012 wieder abgeschafft, weil sie wenig gebracht hat. Übergewicht ist eben ein komplexes Phänomen -und ein soziales Problem. Es ist illusorisch zu glauben, dass bloße Gesundheitserziehung hilft. Die Leute wissen, was gesunde Ernährung ist, aber die Verhältnisse bestimmen, was sie sich kaufen.

DIE FURCHE: Wie paternalistisch sollte der Staat beim Rauchen sein? Derzeit hebt man zwar die Tabaksteuer an, beim absoluten Rauchverbot in Restaurants legen sich aber die Wirte quer, die teuer umgebaut haben

Sprenger: Österreich fährt hier einen ganz seltsamen Kurs -mit der Folge, dass wir bei den rauchenden Jugendlichen Europaspitze sind. Ich würde mir ein Verbot in allen öffentlichen Räumen wünschen -wie in Italien, Irland, Spanien oder Slowenien.

Millauer: In Italien hat sich schon ein Jahr nach diesem Verbot die Zahl der Notaufnahmen wegen akuten Herzinfarkts halbiert. Doch wir in Österreich haben eine Gigel-Gogel-Politik. Wobei eine Untersuchung lustigerweise ergeben hat, dass wir zwei Milliarden Euro mehr an Tabak-und Alkoholsteuer einzahlen, als diese Krankheiten an Kosten verursachen. Demnach müsste man eigentlich die Zigaretten billiger machen (lacht)

Sprenger: Das ist schwierig zu berechnen: Aber Gesundheit an sich ist ja auch schwer zu definieren. In Österreich fühlen sich weniger Leute bei sehr guter oder guter Gesundheit als in anderen Ländern, obwohl wir bei der Lebenserwartung relativ weit vorne sind. Nun kann man sagen, dass die Österreicher Jammerer sind, aber ich glaube, dass das viel mit Lebensqualität zu tun hat.

Millauer: Die Frage ist auch: Wie viele Menschen machen wir schon allein durch unsere Richtlinien krank? Als Schulmediziner halte ich mich zwar an die Guidelines, aber ich habe auch eine persönliche Evidenz. Was wirkt und was nicht? Es zeigt sich etwa immer mehr, dass ältere Patienten von einem etwas erhöhten Blutdruck durchaus profitieren können, weil sie nicht so oft stürzen und dadurch länger leben. Die wissenschaftlichen Gesellschaften sagen auch: Cholesterin im Alter ist eher ein Schutz für den Patienten, während die Pharmaindustrie sagt: Selbst ältere Patienten profitieren von einer Reduktion des Cholesterin-Werts.

Sprenger: Dazu kann ich eigentlich nichts mehr sagen: Sie referieren ja mein Skript...

DIE DISKUTANTEN

Martin Sprenger

Der 51-jährige Mediziner hat in Auckland (Neuseeland) eine Ausbildung zum Master of Public Health durchlaufen. Seit 2002 koordiniert und seit 2010 leitet er den Uni-Lehrgang Public Health der Medizinuni Graz. Er ist auch freier Unternehmensberater.

Martin Georg Millauer

Der 54-Jährige war zehn Jahre lang als Notarzt tätig. Heute hat der Facharzt für innere Medizin nicht nur eine Praxis im steirischen Stainz, sondern ist auch Vizepräsident der Ärztekammer Steiermark und Vorsorgereferent der Kammer auf Bundesebene.

PRÄVENTIVE PROJEKTE

Mutter-Kind-Pass

1974 wurde der Pass in Österreich eingeführt. Heute feiert man ihn als größte Erfolgsgeschichte der Medizin: Durch ihn sei die Säuglingssterblichkeit von 23,5 Promille auf heute 3,2 Promille gesunken.

"Selbstständig Gesund"

SVA-Patienten können sich seit 2012 die Hälfte des 20-prozentigen Selbstbehaltes sparen, wenn sie bestimmte Gesundheitsziele erreichen. Die Folge sind 40 Prozent mehr Vorsorgeuntersuchungen.

"Bleib gesund!"

Mit dieser Kampagne hat die Ärztekammer Steiermark 2011 auf die sinkende Frequenz bei Vorsorgeuntersuchungen reagiert -und sie um acht Prozent auf knapp 13 Prozent steigern können.

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