Gegen alles ein Tabletterl?

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Welche Anleitung braucht es, damit Patienten Ihren Lebensstil ändern? Was ist von der "Vorsorgeuntersuchung neu" und von Gesundheitspässen zu erwarten? Debatte zwischen der Sozialmedizinerin Anita Rieder und dem Gynäkologen Johannes Huber.

Die Furche: Im Rahmen der Gesundheitsreform wurde auch die "Vorsorgeuntersuchung neu" präsentiert. Sind Sie mit den darin enthaltenen Maßnahmen zufrieden?

Anita Rieder: Ich denke, dass eine Konzentration auf Lebensstilfaktoren und auf Beratung sicher von Vorteil ist. Außerdem halte ich es für positiv, dass nun auch das HDL-Cholesterin, also das "gute" Cholesterin, gemessen wird, weil man damit eine bessere Risikoabschätzung bezüglich Herzerkrankungen vornehmen kann. Erfreulicherweise sind auch die älteren Menschen mehr in den Blickpunkt gerückt. Genauso wichtig ist die verstärkte Früherkennung von Brustkrebs und Dickdarmkrebs durch Mammographie und Koloskopie, ebenso wie der sorgfältige Umgang mit der Früherkennung des Prostata-Krebses. Es geht nun darum, dass diese Untersuchungen mit entsprechender Qualität und flächendeckend angeboten werden. Letztlich liegt es aber an den Leuten, dieses Angebot auch wahrzunehmen.

Johannes Huber: Das Augenmerk auf eine Veränderung des Lebensstils zu legen, halte ich für sehr wichtig. Ich glaube auch, dass Früherkennung wichtig ist. Aber noch wichtiger wäre es, zu verhindern, dass etwa Darmkrebs entsteht, dass Brustkrebs entsteht, dass Prostatakrebs entsteht. Verhindern statt früherkennen, das ist meine Philosophie. Die beste Früherkennung nützt nichts, wenn wir uns nicht um präventive Medizin bemühen.

Die Furche: Umso wichtiger ist die Beraterrolle des Arztes....

Huber: Ja. Aber momentan wird nur im Bereich der Kardiologie gezielt beraten - etwa mit Hilfe der Cholesterin-Werte. In der Urologie oder im Bereich des Verdauungstrakte wird das nicht gemacht. Man weiß zum Beispiel, dass manche Patientinnen ein hohes Risiko für Dickdarmkrebs haben. Das kann man mit Hilfe einer Familienanamnese erkennen oder molekularbiologisch erhärten. Zur Prävention kann man Salicylsäure oder eine bestimmte, sehr faserreiche Diät verordnen. Beim Mammakarzinom wiederum gibt es bei Frauen eine eindeutige genetische Veranlagung. Wenn ich weiß, dass eine solche Frau jeden Tag zwei Gläser Wein trinkt, und ich als Onkologe ihr nicht sagen, dass das die größte Beschädigung ihrer Brust ist, sie aber dafür jedes halbe Jahr zur Mammographie schicke, dann ist das nicht richtig.

Rieder: Wobei man schon sagen muss, dass Prävention einen viel höheren Stellenwert bekommen hat als noch vor wenigen Jahren. Wir wissen ja, dass wir bei vielen Erkrankungen ein relativ großes präventives Potenzial haben, das wir mit Primärprävention, Früherkennung und früher Therapie auch ausschöpfen sollten.

Huber: Jetzt wartet man etwa bei Prostatakrebs noch, bis das PSA - das Prostata-Spezifische Antigen - hoch ist. Und dann wird biopsiert und operiert. Aber dass man schon durch die Familienanamnese Hochrisikomänner feststellt und ihnen erklärt, was das Prostatakarzinom verhindern hilft, das wird nicht gemacht. Daher halte ich es für extrem wichtig, dass die Medizin einen Paradigmenwechsel durchführt.

Die Furche: Dieser Paradigmenwechsel ist aber nur möglich, wenn die Patienten überhaupt zur Vorsorgeuntersuchung kommen. Um diese Bereitschaft zu heben, ist nun ein Einladungssystem eingeführt worden. Was erwarten Sie sich davon?

Rieder: Bei einem Einladungssystem werden sicher mehr Patienten kommen - wobei natürlich dieses System nicht ersetzen darf, dass sich die Ärzte weiterhin um ihre Patienten bemühen und sie motivieren. Hier sind die Hausärzte und Hausärztinnen die Generalmanager. Bei ihnen müssen die Befunde zusammenlaufen. Und dann muss ein Gespräch geführt werden. In Vorarlberg hat man von Beginn an ein solches Einladungssystem gehabt. Tatsächlich gehen dort bis zu 25 Prozent zur Vorsorgeuntersuchung, in Wien sind es zwischen fünf und sieben Prozent. Wie viele Menschen zur Untersuchung gehen, hängt aber auch vom Gesamtbewusstsein ab. In Wien haben wir eine komplexe Großstadtstruktur, die nicht so einfach ist. In Vorarlberg ist die Situation traditioneller.

Die Furche: Es ist auch Tradition, dass gerade jene Menschen, die es am notwendigsten bräuchten, seltener zur Vorsorgeuntersuchung gehen - etwa sozial Schwache...

Rieder: Das ist ein grundsätzliches Diskusssions-Thema, weil wir wissen, wie ungleich die Gesundheit in der Bevölkerung verteilt ist: Diejenigen, die weniger Bildung und Einkommen haben, haben die meisten Risikofaktoren und die höhere Morbiditäts- und Mortalitätsrate - und zwar gerade bei Erkrankungen, wo wir ein relativ hohes präventives Potenzial haben. Eine Möglichkeit, diese Bevölkerungsgruppen einzubinden, ist mehr Gesundheitsförderung und Vorsorge am Arbeitsplatz. Wir haben etwa im Rahmen einer Studie mit 600 Arbeitern 17 Prozent Neuhypertoniker, also Menschen mit nichtdiagnostiziertem Bluthochdruck, entdeckt und sie an Ärzte überwiesen.

Huber: Man kann aber nicht alles staatlich verordnen, man kann auch keine utopische Gesellschaft erhoffen, wo der Staat alle Hypertoniker selektiert und ihnen dann eine Beratung gibt, die zum normalen Blutdruck führt. Der Mensch muss die Bereitschaft mitbringen, sich beraten zu lassen - und dann auch sein Leben zu ändern. Natürlich möchten die Menschen das aber nicht tun: Sie möchten gegen alles ein Tabletterl haben, aber dass sie massive Lifestyle-Änderungen vornehmen, die das alles überflüssig machen, das wollen sie nicht. Ich glaube etwa, dass die wichtigste Vorsorgeuntersuchung die Gewichtskontrolle ist. Durch die Gewichtsnormalisierung kann man sich die regelmäßige Messung des Cholesterinspiegels ersparen, auf die der Patient natürlich fixiert ist, wenn er mit 103 Kilo ein zu hohes Cholesterin hat - statt dass er versucht, 30 Kilo abzunehmen.

Die Furche: Das ist nicht einfach. Hier muss der "Gesundheitscoach" einige Überzeugungsarbeit leisten...

Rieder: Man muss auch sagen, dass Lebensstiländerungen bei adipösen Patienten erst bei einer intensiven Betreuung für mindestens ein halbes Jahr Erfolge gebracht haben. Wenn ich solchen Menschen nur eine kleine Empfehlung mit auf den Weg gebe, ist das zu wenig. Die Menschen brauchen eine Therapieanleitung. Das Wort "Coach" beschreibt genau das, was gemacht werden soll. Hier fehlen auch noch Infrastruktur-Einrichtungen. Die derzeitigen Lebensstil-Zentren verschwinden im Vergleich zu denjenigen, die eine solche Betreuung bräuchten: In Wien sind etwa zwei Drittel bei der Vorsorgeuntersuchung übergewichtig. Das ist ein riesiges Patientenkollektiv.

Die Furche: Apropos Gewicht: Neu in die Vorsorgeuntersuchung aufgenommen wurde auch die Bestimmung des Body Mass Index (BMI).Wie hoch ist seine Aussagekraft?

Rieder: Der BMI ist ein Diagnosekriterium der Adipositas, also Fettsucht: Ein BMI über 30 ist sicher ein Risikofaktor. Aber der BMI besagt allein noch nichts über das Risiko für eine koronale Herzerkrankung oder Diabetes. Einen wesentlichen Teil des Risikos stellt auch der Bauchumfang dar. Die Fettansammlung im Bauchbereich, diese Apfelform, ist einfach die riskantere Form des Dickseins.

Die Furche: Neben der Vorsorgeuntersuchung neu sind auch Gesundheitspässe geplant. Was bringen solche Pässe Ihrer Meinung nach - vor allem jene für die 14-Jährigen?

Huber: Man müsste meiner Meinung nach schon früher beginnen: Wenn ein Kind bei der Geburt nur 2800 Gramm hat, und dieses Kind mit 40 oder 50 Jahren adipös wird, dann ist die Wahrscheinlichkeit, einen Herzinfarkt zu erleiden, viel größer als bei Kindern mit höherem Geburtsgewicht. Ein zweiter sehr sensibler Lebensabschnitt ist aber zweifellos die Frühadoleszenz. Dass man sich in dieserPhase mehr um die Gesundheit kümmern soll, halte ich für gut.

Rieder: Die Gesundheitspässe sollen die Jugendlichen auch an das Vorsorgesystem gewöhnen. Dazu kommt die Dokumentation: Wir haben kein gutes Dokumentationssystem was die Vorsorgeuntersuchungen oder die Schuluntersuchungen betrifft. Diese schulärztliche Untersuchung sollte man auch einmal unter die Lupe nehmen. Wir haben heute andere Erkrankungsschwerpunkte bei den Kindern und Jugendlichen: das viel zitierte Übergewicht, die Essstörungen oder auch das Rauchen. Gemeinsam mit Deutschland liegen wir hier an der Spitze.

Die Furche: Dem will man durch ein Rauchverbot auf öffentlichen Plätzen begegnen. Geht Ihnen das weit genug?

Rieder: Es ist sicher wünschenswert, dass möglichst viele Menschen vor den Schäden des Rauchens bewahrt werden. Deshalb ist es auch wichtig, den Nichtraucherschutz gesetzlich abzusichern. Das alles hilft aber dem nikotinabhängigen Raucher nichts. Der braucht eine Rauchertherapie - bei einem Arzt, in einer Ambulanz oder stationär. Wir müssen diesen Betroffenen helfen, dass sie nicht krank werden oder dass das Risiko für weitere Schäden reduziert wird.

Huber: Dazu fällt mir eine abschließende Provokation ein, die als Provokation - und nicht als Vorschlag - gemeint ist: Wenn man mit dem Auto einen Schaden verursacht, kommt man in eine höhere Versicherungsklasse. Genauso ist einer, wenn er von seinem Nikotinmissbrauch nicht loskommt oder massiv übergewichtig ist, ein Risikofall und müsste eigentlich - wenn er nicht sozial schwach ist - höhere Beiträge bezahlen. Wenn das wenige Geld gerecht verteilt werden muss, dann wäre es zumindest wert, über diese Provokation nachzudenken.

Rieder: In Deutschland hat man sich im Gegenteil gerade ein Bonus-System überlegt, was Vorsorgemaßnahmen betrifft. Es gibt dabei aber auch kritische Stimmen. Wir dürfen also auf die erste Evaluierung gespannt sein: Vielleicht kann man davon etwas lernen.

Das Gespräch moderierte Doris Helmberger.

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