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Schwerpunkte der Hoffnung

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Perspektiven der Medizin im Jahr 2000: Die Kosten für den Fortschritt bei der Diagnose und Therapie vieler Leiden können wohl nur durch Intensivierung der Vorsorgeuntersuchungen, gesündere Lebensweise und neue Ideen bei der Altenbetreuung aufgefangen werden.

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Perspektiven der Medizin im Jahr 2000: Die Kosten für den Fortschritt bei der Diagnose und Therapie vieler Leiden können wohl nur durch Intensivierung der Vorsorgeuntersuchungen, gesündere Lebensweise und neue Ideen bei der Altenbetreuung aufgefangen werden.

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FURCHE: Auf welchen Gebieten wird am intensivsten gearbeitet? Wo sind Durchbrüche zu erwarten?

NEUMAYE: Selbstverständlich steht die Onkologie an der Spitze, also das Problem Krebs, wo Durchbrüche um das Jahr 2000 oder jedenfalls am Beginn des dritten Jahrtausends zu erwarten sind. Am ehesten in der Form, daß man die Abwehr des Körpers gegen die Krebszellen intensivieren kann, bis zur Abtötung dieser Zellen. Die Krebszelle ist ein Fremdkörper, dadurch unterscheidet sie sich von den übrigen Zellen des Körpers. Man kann heute mit der Gentechnologie die Information von Zellen künstlich umschreiben.

FURCHE: Wie steht es mit der Verfeinerung bekannter Methoden in Diagnose und Therapie?

NEUMAYR: Man kann heute zum Beispiel mit der sogenannten Mi-kro-Endoskopie, also Innenleuch-tung von Organen mit kleinen, dünnen Instrumenten, bis in die Gallenblase vordringen. Man kann dadurch eine Lösung in die Gallenblase einspritzen, das sogenannte NDPE, das innerhalb von 20 Minuten auch große Gallensteine völlig aufzulösen vermag, bis zum Jahr 2000 wird man kaum mehr Gallensteine operieren.

Den durch einen Tumor weitgehend verschlossenen Mastdarm oder eine durch den Tumor so weit eingeengte Speiseröhre, daß der Patient nicht mehr schlucken kann, kann man heute schon mit Laser wieder durchgängig machen. Bei den großen Gefäßen, etwa an den Beinen, wo man früher oft amputieren mußte, ist die Methode des Durchbohrens oder Durchbrennens etwas, was in Zukunft sicher häufiger als bisher angewendet werden wird.

FURCHE: Was wird auf dem Gebiet der großapparativen Medizin an Neuem kommen?

NEUMAYR: Es kommt die Magnetresonanztomographie, es kommt auch das PET-Verfahren, das Positronenemissionstomo-gramm. Damit kann man, besonders fürs Gehirn wichtig, aber auch in anderen Organen, Gewebsschä-den feststellen, die sich erst anbahnen, sonst noch durch keinen Befund irgendwie faßbar sind. Man kann damit auch erkennen, ob die Zellen noch leben oder schon abgestorben sind. Man kann Stoffwechselfragen klären, den Sauerstoffbedarf des Gewebes bestimmen, die Durchblutung und was es da mehr gibt.

Da müßte man jetzt aber auch die Nuklearmedizin erwähnen, wo die Verfeinerung bekannter Methoden voranschreitet, wo man mit Bildern von sogenannten monoklonalen Antikörpern, die auf einen bestimmten Anti-Gentyp passen, heute schon verwendet zur Lokalisation etwa zum Beispiel eines Tumors oder einer Tumormetastase, weil sich eben dieser monoklonale Antikörper nur mit diesem bestimmten Anti-Gen des Tumors verbindet und nuklearmedizinisch dort strahlt und damit im Bild festgehalten werden kann.

FURCHE: Ist das auch therapeutisch nutzbar?

NEUMAYR: Es wird wahrscheinlich bis zur Jahrtausendwende soweit sein, daß man das auch In die Therapie einbauen kann, daß man die Radio-Therapie so direkt an die Krebszelle heranführen kann, ohne andere Gewebe damit zu schädigen.

FURCHE: Auf dem Gebiet der Hepatitis wurden bereits bedeutende Erfolge erzielt...

NEUMAYR: Man hat einen Durchbruch erzielt bei der sogenannten B-Hepatitis, sodaß man schon seit einigen Jahren eine wirksame Schutzimpfung hat. Das hat nicht nur die Bedeutung, daß es viel weniger chronische Leberentzündungen und Schrumpfleber geben wird, sondern daß auch primärer Leberkrebs seltener werden wird, weil das Hepatitis-B-Virus offenbar mit der Krebsentstehung in der Leber einen gewissen Zusammenhang hat. Nicht für jeden Krebs in der Leber, aber für eine Reihe von Formen des primären Leberkrebses. Leberkrebse treten schon bei Jugendlichen auf, weil die Kinder von der Mutter infiziert werden, sie kommen mit der Hepatitis gewissermaßen auf die Welt, haben schon mit wenigen Jahren eine chronische Hepatitis und mit 15, 18, 20 Jahren oft schon den Leberkrebs. Jetzt kommt ein Impfprogramm, wo die Neugeborenen sofort geimpft werden müssen.

Ein Durchbruch.dersichzur Zeit abspielt, ist die Entdeckung und damit der Nachweis des Non-A-Non-B-Hepatitis-Virus, das häufig durch die Transfusionen übertragen wird und wo es bisher nicht gelungen ist, das Virus zu isolieren und nachzuweisen. Das wird in den nächsten Jahren, dazu führen, daß es auch eine Impfung geben wird.

FURCHE: Und Aids?

NEUMAYR: Bei Aids ist noch kein Durchbruch erzielt worden, was die Behandlung anlangt, aber doch schon einige beachtliche Fortschritte, die immerhin die Lebensspanne deutlich verlängern. Trotzdem ist die durchschnittliche Überlebenszeit bei ausgebrochener Aidskrankheit, nicht bei HFV-Infizier-ten, bei zwei Jahren. Die Ausbreitung unterschätzt man wahrscheinlich. Wenn man glaubt, daß jetzt die Aidsfälle zurückgehen, ist das möglicherweise ein Trugschluß, weil nämlich die Gesetze der epidemiologischen Ausbreitung es eher wahrscheinlich machen, daß zunächst einmal von den Infizierten, gewissermaßen wie bei einem Langstreckenlauf, die ersten im Ziel eintreffeh, das Gros kommt zerstreut in langen Intervallen hinterher.

FURCHE: Welche Rolle wird die Prävention im Jahr 2000 spielen?

NEUMAYR: Beim Krebs tut sich da zum Beispiel enorm viel. Solange man immer nur Erkennung und Therapie als das Wesentliche betrachtet, da wird ja viel gearbeitet, wird man den Krebs nicht in den Griff bekommen. Solang man nicht die Prävention stärker in den Vordergrund stellt. Wenn einmal ein Lungenkrebs da ist, was kann man schon tun. Man kann operieren wenn er günstig liegt, aber meistens liegt er gar nicht so günstig. Dann bleibt für manche Lungenkrebsformen eine zytostatische Behandlung über, aber die meisten sprechen ja nicht auf die zytostatische Behandlung an. Wenn man bedenkt, daß das ein Krebs ist, der zu 90 Prozent nur bei Rauchern auftritt, und Lungenkrebs bei einem Nichtraucher ist nach wie vor eine Rarität, dann ist das ein typisches Beispiel dafür, wie wichtig es wäre, daß bis zum Jahr 2000 endlich unsere Verantwortlichen in der Politik so weit zu erstarken, daß sie sich nicht in die Knie begeben, weil irgendein Generaldirektor einer Rauchwarenfabrik sagt: ich bringe euch soviel Steuergelder, ihr dürft mich daher nicht antasten. Das ist eine falsche Rechnung. Es gibt genug Rechnungen aus den Vereinigten Staaten, aber auch aus Europa, die nachweisen, daß die Folgekrankheiten, nicht nur Krebs, sondern die anderen Folgekrankheiten, etwa Herzinfarkt, Schlaganfall, Durchblutungsstörungen, vor allem die chronischen Lungenerkrankungen, daß alle diese Kosten, Frühinvalidisierung, Arbeitsausfall ein Vielfaches dessen ausmachen, was die Zigaretten, samt allen Zuschlägen zur Zigarette kosten.

In Amerika zeigt sich allein durch die Abnahme des Rauchens und durch die bessere Erfassung von Blutdruck und Cholesterin, daß dort zum Unterschied zu uns, wo Herzinfarkt und Todesfälle aufgrund von Herzzwischenfällen immer noch mehr als 50 Prozent ausmachen und noch immer eine leicht ansteigende Tendenz haben, deutlich rückläufig sind.

FURCHE: Der Patient hat oft vor dem Schmerz mehr Angst als vor der eigentlichen Krankheit...

NEUMAYR: In der Schmerzbekämpfung hat sich einiges getan, vor allem was den chronischen Schmerz anlangt. Akuten Schmerz kann man in jedem Fall gut unter Kontrolle bringen. Aber der chronische Schmerz, der zum Beispiel gerade beim Krebspatienten bei Metastasen im Knochen stark auftritt - hier gibt es gewaltige Fortschritte, die allerdings nicht erst im Jahr 2000, sondern jetzt schon greifen.

FURCHE: Stichwort Diabetes...

NEUMAYR: Bei der Behandlung des Diabetes muß man unterscheiden zwischen Typ-2-Diabetes, Altersdiabetes und Typ-l-Diabe-tes, dem Jugendlichendiabetes, der oft schon bei Kindern beginnt und ausschließlich mit Insulin behandelt werden muß. Beim Altersdiabetes kann man längere Zeit mit Tabletten auskommen, dann kommt die sogenannte Sekundär-Resistenz.

Beim Typ-1 ist eine ganz gewaltige Änderung erfolgt, weil man nicht mehr wie früher mit einer fixen Insulindosis über den Tag verteilt den Patienten zwingt, nach dieser Insulindosis zu leben, sondern umgekehrt, den Patienten leben läßt, wie er will, und das Insulin an seinen Lebensrhythmus anpaßt. Es gibt bereits Geräte, die ihm erlauben, mehrere Male am Tag seinen Blutzucker zu bestimmen. Es gibt Nadeln, so dünn, daß man fast keinen Schmerz spürt. Die Diabetikerschulung ist eine der Hauptsäulen der Diabetesbehandlung.

Im Jahr 2000 wird auch der jugendliche Diabetiker nicht mehr ausgegrenzt werden, er wird gesellschaftlich völlig integriert, völlig frei handeln können. Auch die ganz schwer einstellbaren Diabetiker, die sogenannten Brittie.

Was man noch nicht kann, zumindest nicht so, daß man das Gerät dem Patienten unter die Haut verpflanzen kann, ist das laufende Bestimmen des Blutzuckers und die Umsetzung in eine entsprechende Abgabe von Insulin. Heute kann man schon Zwischeninsulindosen einstellen, aber das Gerät kann bis jetzt nicht gleichzeitig messen und die notwendige Insulinmenge, ohne daß man etwas dazutut, abgeben. Daran wird gearbeitet. Großgeräte sind schon da, die das können.

FURCHE: Stichwort Geriatrie...

NEUMAYR: Die Geriatrie wird nicht nur ein Problem für das Jahr 2000, sondern vor allem auch für die Jahrzehnte danach. Durch die Fortschritte der Medizin geht das durchschnittliche Lebensalter gewaltig hinauf. Vor 50 Jahren lag es noch durchschnittlich um 40 oder 42 Jahre, jetzt ist es bei 74,76 Jahren. Aber es wird angenommen, daß es im Jahr 2000 bei 78 und im Jahr 2030 bei 82 Jahren liegen wird.

Es ist aber leider so, daß Fortschritte zunichte gemacht werden. Die Lebenserwartung könnte sicher schon wesentlich höher sein, könnte man das Rauchen bei der Bevölkerung der westlichen Welt einstellen. Dies würde zum Beispiel die Schlaganfälle verringern, ebenso die Infarkthäufigkeit und die Krebsanfälligkeit.

FURCHE: Mit Verboten?

NEUMAYR: Das kommt sicher auch. Diese Auflagen werden nicht nur in Amerika Fuß fassen, es werden ja langsam auch einmal die Europäer beginnen, darüber nachzudenken und vielleicht auch Maßnahmen ergreifen.

FURCHE: Wo wird die Medizin auch anno 2000 kapitulieren?

NEUMAYR: Sie muß vorläufig auf jeden Fall, auch im Jahr 2000, vor einem großen Teil der Karzinome kapitulieren. Dann vor allen Abnützungserkrankungen, vom Knochensystem angefangen bis zur Arteriosklerose. Bei Rheuma kann man schon wieder einiges machen. Bei den Abnützungserscheinungen aber kann man nicht viel machen, im Gegenteil, weil der Sport so propagiert und intensiviert wird, sind die Abnützungserscheinungen jetzt oft schon in jungen Jahren sehr stark. Das geht ja alles auf Kosten der Allgemeinheit.

Primarius Dr. Anton Neumayr ist Universitätsprofessor für Innere Medizin und Leiter der Ludwig-Boltzmann-Forschungsstelle für Geriatrie in der Rudolfstiftung in Wien, wo er Vorstand der Ersten Medizinischen Klinik war. Mit ihm sprach Hellmut Butterweck.

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