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Die EG und die Gene

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Die Komplett-Analyse der menschlichen Erbanlagen ist noch garnichtgelungen und soll auch nur der Forschung dienen, doch die EG-Kommission ließ die Katze aus dem Sack.

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Die Komplett-Analyse der menschlichen Erbanlagen ist noch garnichtgelungen und soll auch nur der Forschung dienen, doch die EG-Kommission ließ die Katze aus dem Sack.

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Der modernen Wissenschaft ist Natur lediglich Maske. Dahinter verbirgt sich eine Ordnung der Dinge, deren systematische Kenntnis alle Rätsel des Schicksals löse.

Jedoch, es geht schon lange nicht mehr um das Erkennen der Ordnung und ihrer Prinzipien, sondern um den Eingriff in sie. Wahrscheinlich war reines, zweckfreies Erkenntnisinteresse immer schon Illusion, aber seine gef ährliche Liaison mit der Technik ist die spezifische Qualität moderner Wissenschaften. Es gibt kein Wissen mehr, das nicht stets auch seine technisehe und kommerzialisierbare Anwendung im Auge hätte. Das EG— Genomanalyse-Projekt liefert dafür einen neuen Beweis.

So heißt es im Entwurf der EG-Kommission, der 1988 dem Rat zur Entscheidung vorgelegt wurde: .Abgesehen vonUnfall- und Kriegsfolgen haben viele Krankheiten heutzutage eine mehr oder weniger bedeutende genetische Komponente... Allerdings ist die Lage, was die gängigen Krankheiten wie Herzkranzgefäßerkrankungen, Diabetes, Krebs, Autoimmunerkrankungen,schwere Psychosen und andere bedeutende Krankheiten der westlichen Gesellschaft angeht, viel weniger eindeutig. Diese Störungen haben eine starke Umweltkomponente, und obwohl genetische Faktoren beteiligt sind, hegt hier kein klar erkennbares Erbmuster vor. Anders ausgedrückt, ist die Krankheit darauf zurückzuführen, daß von der genetischen Struktur her für diese Krankheiten anf ällige Personen oder Populationen bestimmten Umweltbelastungen ausgesetzt sind... Da es höchst unwahrscheinlich ist, daß wir in der Lage sein werden, die umweltbedingten Risikofaktoren vollständig auszuschalten, ist es wichtig, daß wir soviel wie möglich über Faktoren der genetischen Prä-Disposition lernen und somit stark gefährdete Personen identifizieren können. Vorgeschlagen wird eine neue Art prädiktiver Medizin, die darauf abzielt, Personen vor Krankheiten zu schützen, für die sie von der genetischen Struktur her äußerst anfällig sind, und gegebenenfalls die Weitergabe der genetischen Disponiertheit an die folgende Generation zu verhindern.“

Meint dieser mit großer Gelassenheit vorgetragene Aberwitz tatsächlich eine Dezimierung der europäischen Bevölkerung? Denn dies wäre die logische Folge angesichts der Tatsache, daß die genannten Krankheiten das Gros menschlicher Todesursachen in westlichen Industrieländern ausmachen. Zwei komplementäre Fragen drangen sich auf: mit welchen Krankheiten dürfen wir nach diesen Vorstellungen in Zukunft noch leben - und woran dürfen wir noch sterben?

Verfolgen wir nüchtern, dem kühlen Tone des EG-Entwurfes gemäß, Verfahren und Ziel dieser Idee. Um sie zu realisieren, bedürfe es einer Verbesserung der Auflösung menschlicher Genkarten, der Erstellung geordneter Klonbibliotheken und einer Verbesserung der fortschrittlichen Gentechnologien. Daß die Frage nach den gesellschaftlichen Folgen dieses Vorhabens am Ende und verschämt beiläufig gestellt wird, hegt natürlich an der bereits geschlossenen und unauflöslichen Ehe zwischen wissenschaftlicher Neugier und industrieller Nutzung, denn „das Programm ist eine europäische Antwort auf die internationalen Herausforderungen durch die groß angelegten Forschungsprojekte der USA (Kartierung und Sequenzierung des menschlichen Genoms) und Japans (Human' Frontiers Science Pro-gram'). Obwohl es ein Programm vor-kommerzieller Grundlagenforschung ist, werden sowohl neue Informationen als auch Materialien daraus hervorgehen, die ein kommerzielles Potential haben...“ . Der enorme Zuwachs an genetischen Informationen und deren Nutzung werfen, heißt es, zwar ethische Fragen auf, „über die sich die Politiker und die Gesellschaft als Ganzes ernsthafte Gedanken machen müssen“, aber die nächsten Kapitel des Entwurfes sind der Finanzierung, insgesamt 30 Millionen ECU von 1989 bis 1991 (das entspricht knapp 438 Millionen Schilling), und dem Management des Projektes gewidmet, womit der Text wahrscheinlich völlig unbeabsichtigt die reale „unpolitische“ Natur von EG-Kommission und EG Ministerrat zum Vorschein bringen. Er suggeriert, Politik würde anderswo gemacht, während man selbst nur Nachvollzugs- und Legitimationsinstanz dessen ist, was Wirtschaft und Wissenschaft als Sachzwang gesetzt haben.

Darüber hinaus gibt es einen Abschnitt über die Notwendigkeit einer Übereinstimmung mit dem forschungstechnologischen Rahmenprogramm der EG, in dem sich ein „Europa der Gesundheit“ mit ökonomischen Zielen verquickt. Demnach paßt das Programm „Prädiktive Medizin“ auf der Grundlage der Genomanalyse organisch in die Aktion „Lebensqualität“, zumal durch die Entwicklung der prädiktiven („voraussagenden“) Medizin „zahlreiche Erkrankungen zurückgehen werden, die für den Patienten und seine Familie sehr belastend und in sozialer Hinsicht für die Gemeinschaft sehr kostspielig sind.“

Nahtlos schließt an diese Formulierung die wirtschaftliche Perspektive an, wie daraus Kapital zu schlagen sei: „Das Ziel der .Stimulierung der wissenschaftlichen Forschung und der technologischen Entwicklung in der Gemeinschaft zur Stärkimg der wissenschaftlichen und technischen Grundlage ihrer Industrie' wird von dem Programm ebenfalls ausdrücklich verfolgt, was bedeutet, daß fortgeschrittene Technologien mit hohem Mehrwert, z.B. DNA-Sonden als Diagnosehilfen, gefördert werden sollen. Begründete Schätzungen gehen davon aus, daß der potentielle Markt für DNA-Sonden in den nächsten zehn Jahren einen Wert zwischen ein und zwei Milliarden ECU pro Jahr aufweisen wird“ (14 bis 28 Milliarden SchUling).

Dabei müsse man auf die „Beteiligung kleinerer und mittlerer Betriebe“ und auf einen innergemeinschaftlichen Wissenschaftleraustausch achten. All dies sei „der beste Weg, um die Europäer davon zu überzeugen, daß die Schaffung eines .Europas der Gesundheit' nicht nur eine Frage der Öffentlichkeitsarbeit, sondern gelebte Realität ist“.

Geplant ist aber, nicht nur das Wissen um die Ordnung menschlichen Erbmaterials zu erweitern, sondern dessen Korrektur durch Gentherapie. Und geplant ist die Erfassung der gesamten EG-Bevölkerung: „Wenn die Gene identifiziert worden sind, die mit einem erhöhten Risiko für die gängigen Krankheiten wie Herzkrankheiten, Diabetes, Arthritis in Verbindung stehen, wird sich die Möglichkeit zu Reihenuntersuchungen der Bevölkerung ergeben. In Westeuropa, mit einer Bevölkerung mit zunehmendem Durchschnittsalter und einem damit verbundenen stetigen Kostenanstieg im Gesundheitswesen, sind die Aussichten sowohl auf billigere Tests als auch auf frühzeitiges Eingreifen, wodurch eine Abnahme der Erkrankungshäufigkeit möglich wird, äußerst attraktiv.“

Im Klartext: Die Bevölkerung westlicher Industrieländer erkrankt und stirbt an Herzkreislauferkrankungen, Krebs, Diabetes, Autoimmunerkrankungen, leidet an Magengeschwüren, Arthritis und Psychosen.

Diese Erkrankungen und das gestiegene Durchschnittsalter bedingen die Kostenexplosion im Gesundheitswesen.

Die für diese Erkrankungen relevanten Umweltfaktoren sind kaum behebbar, also sucht man nach den genetischen Anf älligkeiten des einzelnen, korrigiert sie oder verhindert deren Weitergabe an folgende Generationen, was etwas deutlicher formuliert auf ein Fortpflanzungsverbot hinauslaufen könnte.

Die Gentechnologie eröffnet auch im Bereich der prädiktiven Medizin neuen wirtschaftliche Chancen unabschätzbaren Ausmaßes. Daß dies im Widerspruch zu der legitimierend beschworenen Kostensenkung im Gesundheitswesen steht, sei nur am Rande angemerkt.

Das alles als notwendige Antwort auf die Herausforderungen der Industriegiganten USA und Japan.

Der Plan ist so einfach wie brutal: Schaffen wir uns also den absolut durchschau-, katalogisier- und damit verfügbaren Menschen, den wir nach seinen Neigungen jeder Form von Umweltaussetzen, in jeder Art von Arbeitswelt einsetzen und zur Fortpflanzung heranziehen oder korrigieren, wenn er dafür keine günstigen Voraussetzungen bietet. Offen bleibt, was geschieht, wenn Diagnosen und Therapien nicht miteinander Schritt halten, wenn Menschen einfach nicht wissen wollen, woran sie in 30 oder 40 Jahren leiden und sterben werden.

Es stellen sich nun einige Fragen: Wie wäre der Ungeheuerlichkeit dieses Projektes zu begegnen, ohne zugleich eine wissenschaftsfeindliche Position einzunehmen, die ein düsteres Kapitel abendländischer Geschichte begründet? Wie wären menschliche Würde und Selbstbestimmung vor einer ökonomisierten Wissenschaft zu retten, die stets das Wohl des Menschen als oberstes Interesse definiert und jede Kritik als fortschrittsfeindlich abtut?

Wie wäre eine gesellschaftliche Diskussion über Sinn und Notwendigkeit einer solchen Wissenschaft in Gang zu setzen, ohne eine Politik der Angst zu betreiben, wenn Gefahren sinnlich nicht mehr wahrnehmbar sind?

Und wie wäre autonomes politisches Handeln noch möglich, wenn Politik sich ihrer Entscheidungsmacht begibt und sich im platten Zynismus als Exekutive ökonomischer Sachzwänge verhält?

Wir stehen - wieder einmal — an einem entscheidenden Punkt der Geschichte, dessen Überschreitung im Namen des Fortschritts unausweichlich scheint. Die Geschwindigkeit der Entwicklung stellt uns unentwegt vor neue Fakten. Behauptete man in allen Enquete-Kommissionen zur Gentechnologie noch vor wenigen Monaten, daß Eingriffe in die menschliche Keimbahn verboten sein müssen, so haben italienische Forscher nun auch diese Grenze überschritten. Die Berichte sind damit Makulatur. Politische Grundsätze werden stets dann Makulatur werden, wenn Politik die Macht an jene abgibt, die nicht nur Ordnung in die Welt bringen wollen, sondern sich zum Schicksal über sie aufspielen.

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