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Menschenwürde und Gentechnik

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Am 29. Juni 1984 beschloß der Deutsche Bundestag die Einsetzung einer Expertenkommission zum Thema „Chancen und Risiken der Gentechnologie”. Die Empfehlung des Ausschusses kam mit den Stimmen der CDU/ CSU-, SPD- und FDP-Fraktionen bei Stimmenthaltung der Grünen zustande. Zwei Jahre später folgte die Veröffentlichung der Diskussionen und wissenschaftlichen Fakten. Im Vorwort des zusammenfassenden Bandes weist Abgeordneter Wolf-Michael Catenhusen darauf hin, daß sich einzig die Grünen nicht mit dem Kommissionsbericht einverstanden erklärten und eine abweichende Stellungnahme abgaben. In der Enquete-Kommission wurde auch intensiv über Möglichkeiten des Eingriffes in die DNS diskutiert, um Erbkrankheiten zu heilen.

Nach Stand der Forschung ist eine Gentherapie sonst unheilbarer Erbkrankheiten wahrscheinlich nur möglich, wenn man in die Entwicklung früher Embryonalstadien eingreift. Erfolgsaussichten zeichnen sich zur Zeit, wenn überhaupt, nur in ersten theoretischen Ansätzen ab. Doch schon in näherer Zukunft könnten positive Resultate zu erwarten sein. Was zunächst abstrakt und unverfänglich erscheint, erweist sich bei näherer Untersuchung als bedrohend und mit ethischen Vorstellungen vom Mensch-Sein schlechthin nicht mehr vereinbar. Tierversuche — darin sind sich die Forscher einig — können nicht die nötigen Aufschlüsse bringen. Für die sogenannte Keimbahntherapie benötigt man als Untersu-chungs- und Experimentobjekte menschliche embryonale Zellen. Im Kommissionsbericht heißt es dazu: „Wenn eine Keimbahntherapie bei menschlichen Embryonen durchgeführt werden soll,muß sie auf einem fundierten Wissen über die Entwicklung und Expression von Genen in sehr frühen menschlichen Embryonen beruhen. Ein solches Wissen kann nur erworben werden, wenn solche Embryonen dafür benutzt werden. Es bleibt allerdings der Umfang des Verbrauchs an Embryonen für diese Verlaufsfor-schung offen.” An keiner Stelle findet sich seitens der beschlußfassenden Parteien (CDU/CSU, SPD, FDP) ein kategorisches Nein zu derartigen Versuchen.

Wenn wir, und darüber sollten wir uns in allen Konsequenzen klar sein, hier die Tür zu Experimenten an embryonalen Zellen auch nur einen Spalt öffnen, könnte in einigen Jahrzehnten vielleicht doch wahr werden, was der Genetiker Hermann Joseph Muller in geradezu sträflicher Unterschätzung der gesellschaftspolitischen Auswirkungen der Wissenschaft wiederholt forderte, wie etwa 1965, als er das Ziel der wissenschaftlichen Kontrolle über das Erbgut mit „einer immer reicheren Erzeugung von Menschen, die die höchsten Gaben des Geistes, des Herzens und des Leibes, die wir heute unter uns antreffen”, klar umriß.

Es steht außer Zweifel, daß die Forschung heute nicht und vielleicht nie in der Lage ist, derartige Züchtungen, auch wenn sie von Nobelpreisträgern stammen, zu realisieren. Dieses nüchterne Faktum darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß die modernen Forschungen samt den an sie geknüpften Erwartungen oder Forderungen das Menschenbild verändern können. Wenn drei Großparteien, die für eine Demokratie verantwortlich sind, einen Bericht veröffentlichen lassen, in dem es heißt „es bleibt allerdings der Umfang des Verbrauches an Embryonen für diese Verlaufsforschung offen”, stellt allein dies bereits ein ungeheures Gefahrenpotential für die Bewertung dessen, was wir unter „Mensch-Sein” verstehen, dar. Die Verbindung der Wörter „Verbrauch” und ,Jüm-bryo” zeigt unsere Wertvorstellungen über das Leben und seine Verfügbarkeit in einem neuen Licht.

Problematisch erscheint nicht Forschung an sich, sondern jede Ideologie, die Erwartungen an diese Forschung stellt und die Achtung vor dem Leben, vor dem Anderen Schlechthin wieder bedrohlich zu verändern droht. Wenn auch, objektiv richtig, Vertreter der Biotechnologie entgegnen, daß all das, was man dieser Wissenschaft an angsteinflößenden Zukunftsvisionen zuschreibt, von ihr wahrscheinlich gar nicht „geleistet” werden kann, so entsteht doch zwischen dem, was Wissenschaft kann und darf, und dem, was ihr ideologisch zugemutet wird, eine gefährliche Kluft.

Auch die von den Nationalsozialisten mißbrauchte „Wissenschaft” der Rassenbiologie war nie in der Lage, zu erfüllen, was die Nürnberger Gesetze von ihr forderten. Keiner der braunen Rassenbiologen war aufgrund sogenannter rassenbiologisch-anthropologischer Untersuchungen in der Lage, zu unterscheiden, ob jemand „deutsch- oder fremdblü-tig” oder gar „Mischling” ersten oder zweiten Grades war. Dennoch wurden aufgrund pseudowissenschaftlicher Gutachten Menschen in Konzentrationslager geschickt: „Die rassenbiologische Untersuchung hat ergeben, daß der Prüfling Züge aufweist, wie sie nur beim jüdischen Volk zu finden sind ...”

Mehr und mehr hört man Stimmen, die meinen, man müsse die Menschen doch wieder nach genetischen „Tauglichkeiten” beurteilen, müsse darauf achten, daß sich nicht jeder Kranke und „Asoziale” fortpflanze. Ein neuer biologi-stischer Elitarismus könnte sich unter dem Druck der sich ändernden sozioökonomischen Bedingungen breitmachen. Pseudowissenschaftliche „Begründungen”— diesmal nicht unter den Aspekten der Rassenbiologie, sondern der Biotechnologie — würden dann wieder Grundlagen für gefährliche Wertzuweisungen schaffen.

Durch Genomanalysen und DNS-Sonden wird in absehbarer Zeit das Erbgut jedes Menschen exakt beschreibbar werden. Es ist keine Utopie mehr, daß in naher Zukunft ein lückenloses genetisches „Screening” bei allen Neugeborenen durchgeführt werden kann. Dies mag segensreich wirken, wenn die Daten ausschließlich der Diagnostik und Therapie von Krankheiten dienen. Es ist aber keineswegs auszuschließen, daß solche Unterlagen auch bezüglich anderer biologischer Fakten gespeichert und zum Nachteil des Einzelnen verwendet werden.

Nur eine aufgeklärte, in die Diskussion einbezogene Öffentlichkeit kann das Auftreten inhumaner Ideologien, die sich der neuen Wissenschaften bedienen, verhindern. Julian Huxley 1964: „Wissen ist es, das uns befähigt, die Welt und uns selbst zu verstehen und eine Kontrolle und Leitung auszuüben.” An uns allen wird es aber liegen, dieses Wissen mit dem unveränderbaren Begriff der Allgemeinen Menschenliebe zu verbinden, um zu verhindern, daß die „Kontrolle und Leitung” wieder einmal in die falschen Hände geraten könnte.

Der Autor ist Vorstand des Institutes für Humanbiologie der Universität Wien.

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