Statt zu klagen, in die Forschung investieren

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Ethik darf bei der von ihr zu leistenden Güterabwägung nicht auf die Argumente wissenschaftlicher Vernunft verzichten.

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Ethik darf bei der von ihr zu leistenden Güterabwägung nicht auf die Argumente wissenschaftlicher Vernunft verzichten.

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Die Debatte. Genforschung: Chance und Risiko?

Zum Thema. Streit ums Erbgut. Mit einem kräftigen Plus für Craig Venters Aktien reagierten die Börsen auf die Ankündigung des amerikanische Molekularbiologen, er und die Wissenschafter seiner Biotechnologie-Firma Celera Genomics hätten 99 Prozent des menschlichen Gen-Bauplans entschlüsselt. Obwohl der Wert von Venters Erkenntnissen nicht unumstritten ist - es gibt auch Fachleute, die von Datenschrott sprechen -, steht fest, daß die Entschlüsselung des menschlichen Erbguts nur mehr eine Frage weniger Jahre ist. Während der medizinische Nutzen der Genom-Forschung großteils unumstritten ist, ruft die Vermarktung der neuen Erkenntnisse scharfe Kritik hervor. Mehr Risiko oder mehr Chance? Die furche hat den Biochemiker Tuppy und die Nationalratsabgeordnete Sima dazu um ihre Meinung gebeten. WM An der Bestimmung der "Sequenz" der Buchstaben im Humangenom wird weltweit gearbeitet. Nun ging vor kurzem die Nachricht durch die Medien, daß sie bereits zu 99 Prozent "aufgeklärt" sei. Tatsächlich sind von den über drei Milliarden molekularen Lettern, aus denen das menschliche Erbgut besteht, fast alle isoliert und "sequenziert" worden. Allerdings ist erst in Ansätzen bekannt, wie diese Buchstabenfolgen - Satzfragmenten vergleichbar, die aus dem Zusammenhang gerissen sind - zusammengehören; um Sinn zu ergeben, müssen sie, wie die Bausteine eines riesigen Puzzlespiels, erst richtig zusammengesetzt werden. Dies zu bewältigen, wird noch einige Jahre, vielleicht auch nur mehr ein Jahr, benötigen.

Die bevorstehende Kenntnis des Humangenoms wird - gemeinsam mit der Entschlüsselung der genetischen Informationen vieler anderer Lebewesen des Mikroben-, des Pflanzen- und Tierreiches, in die Wissenschafts-, ja, in die Menschheitsgeschiche als einer der Meilensteine, die den Übergang vom 20. zum 21. Jahrhundert markiert, eingehen.

Mit Hilfe der Genomanalyse ist es nun auch möglich, die verhältnismäßig sehr kleinen Unterschiede im genetischen Material von Individuen, die der gleichen Art angehören, zu identifizieren. Vor allem aber werden die grundlegenden Gemeinsamkeiten zwischen allen Menschen, welcher Herkunft und Populationszugehörigkeit auch immer, klar zutagetreten. Nicht ohne Grund spricht man - ohne Unterschiede zu vernachlässigen - von dem Humangenom in der Einzahl.

Ein einziger Stammbaum aller Lebewesen zeichnet sich immer deutlicher ab; er wird zu einem unverzichtbarer Teil unserer Weltsicht und Bildung. Wie schon die Existenz des gleichen Erbmaterials in ganz verschiedenen Zellen desselben Organismus zeigt, hängt die Ausprägung genetischer Anlagen örtlich und zeitlich vom Milieu ab, in dem sie zur Wirkung kommen. Das Genom prägt das Erscheinungsbild des Lebewesens; wann und inwieweit einzelne Anlagen zur Ausprägung kommen, ist aber auch einer externen Kontrolle zugänglich. Die ideologisch polarisierte Fragestellung "Erbe oder Umwelt" wird einer ausgewogeneren und integrativeren Betrachtung weichen.

Hinter dem Erkenntniswert der Genom- und der nun folgenden "postgenomischen" Forschung bleibt der mögliche praktische Nutzen nicht zurück. Derzeit steht der medizinische Anwendungsbereich - verbesserte Möglichkeiten der Krankheitsprophylaxe, der Diagnose und der Therapie - im Vordergrund. Es ist bezeichnend, wieviel öffentliche Mittel in vielen Ländern in die einschlägige biomedizinische Forschung fließen und wieviel es sich Firmen, vor allem der Pharmabranche, kosten lassen, zu verwertbaren Daten möglichst schnell, und schneller als andere, zu kommen.

Ähnliches gilt aber für die nichtmedizinische Genforschung und Biotechnologie. Oft wird beklagt, daß die Übermacht großer globaler Konzerne weniger entwickelte Länder in Abhängigkeit bringt. Statt zu klagen, sollte mehr getan werden, um die weniger entwickelten Länder, unser eigenes eingeschlossen, instandzusetzen, durch eigene Forschungen und Entwicklungen wettbewerbsfähiger zu werden.

Die Erforschung des Humangenoms und der Beziehungen zwischen Erbe und Umwelt machen den schon jetzt ziemlich "gläsernen Menschen" noch gläserner. Möglichkeiten der Observation und Intervention nehmen zu. Zur Beurteilung und Richtungweisung sind sach- und wertbezogene Überlegungen relevant. Sachkenntnis und Sachbezogenheit ersetzen Ethik nicht; ebensowenig aber darf Ethik bei der von ihr zu leistenden Güterabwägung auf die Argumente wissenschaftlicher Vernunft verzichten. Wenn es um wissenschaftsbezogene Praxis geht, sind Biowissenschaft und Bioethik gemeinsam aufgerufen.

Der Autor ist Professor für Biochemie an der Medizinischen Fakultät der Universität Wien.

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