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Sind wir noch mehr als die Summe unserer Gene? Überlegungen zum Gesundheitsbegriff und zur Unantastbarkeit der menschlichen Würde angesichts prädiktiver Medizin.

Gesundheit und Krankheit waren zu keinem Zeitpunkt in der Geschichte der Medizin objektive oder wertneutrale Begriffe. In der langen Ära vor der naturwissenschaftlichen Medizin - also bis annähernd in die Mitte des 19. Jahrhunderts - wurde Gesundheit überwiegend als ein subjektiver, qualitativer Zustand aufgefasst, den ein Mensch dann bei sich konstatierte, wenn er nicht unter den Symptomen einer Krankheit litt. Seit damals hat sich die naturwissenschaftliche Medizin zunehmend von diesem subjektorientierten, auf das Befinden des Menschen zentrierten Gesundheits- und Krankheitsbegriff gelöst. Durch Beobachten, durch Messen und Zählen und schließlich durch eine ganze Palette von statistisch ermittelten Normwerten aus dem Bereich der Klinischen Biochemie und Hämatologie sind Gesundheit und Krankheit allem äußeren Anschein nach quantitativ nachprüfbar geworden: Wer einen Blutdruck von 170/90 mmHg hat, ist nicht gesund, und wer ein Serumcholesterin von 315 mg/dl hat, bekommt vermutlich demnächst einen Schlaganfall.

Was in den sechziger Jahren scheinbar harmlos mit dem internistischen Konzept der "Risikofaktoren" wie Blutdruck-, Blutzucker-, Cholesterin- oder Harnsäurewerten begann, heißt in der Ära der Humangenomforschung nunmehr "genetische Krankheitsdisposition" oder gar - populär, aber falsch - "Krankheits-Gen". Der reduktionistische Versuch, Gesundheit und Krankheit an der linearen Abfolge der DNA dingfest zu machen, hat einen völlig neuen Zweig der ärztlichen Prognostik hervorgebracht, der in den kommenden Jahren vermutlich weiter boomen dürfte: die Prädiktive Medizin, die unser zukünftiges Krankheitsschicksal in Form eines individuellen statistischen Risikoprofils angibt. Im Sinne der prädiktiven Medizin dürfte es keinen Bürger mehr geben, der im umfassenden Sinn des Wortes noch als "gesund" wird gelten können.

Amputation nach Gentest

Die Prädiktive Medizin bringt freilich eine Fülle ungeklärter Fragen mit sich, auf deren Beantwortung wir uns in den nächsten Jahren einstellen sollten. Vorerst gibt es hier nur einzelne empirische Hinweise, die uns zu denken geben mögen. So porträtierte der Fernsehsender RTL im Februar 1999 eine junge Frau, die um ihre erbliche Belastung mit einem "Brustkrebs-Gen" wusste und sich darauf hin vorsorglich beide Brüste operativ entfernen ließ. Bis zum Zeitpunkt der Operation hatte sie ständig in panischer Angst vor dem Ausbruch eines Mammakarzinoms gelebt. Danach fühlte sie sich wesentlich ruhiger und sicherer; sie bereute den Eingriff nicht. Eine andere junge Frau mit ganz ähnlichem Schicksal plädierte jedoch dafür, dass zumindest ihre beiden Kinder nicht auf das Vorhandensein von "Krebs-Genen" untersucht werden sollten: Nach allem, was sie selbst seelisch und körperlich durchlitten habe, könnten sie und ihre Familie es nicht mehr zusätzlich verkraften, falls sich herausstellen sollte, dass auch eines der Kinder mit dem entsprechenden "Krebs-Gen" belastet sei. Das Nichtwissen über die potenziellen Krankheitsrisiken der Kinder wurde von dieser Patientin als eine unerlässliche Bedingung für die Rettung ihrer Ehe und Familie angesehen.

Diese beiden Fallgeschichten könnten uns Anlass zu vielerlei ethischen Überlegungen geben: Wir könnten zum Beispiel fragen, ob es angesichts der prognostischen Unsicherheit überhaupt gerechtfertigt war, die beiden Frauen auf ihre genetische Prädisposition hin zu untersuchen. Schließlich bleiben ja mehr als 60 Prozent der Genträgerinnen langfristig gesund, unsere beiden Patientinnen wurden also durch die Mitteilung ihres genetischen Beraters mit einer recht hohen Wahrscheinlichkeit unbegründet in Schrecken versetzt und ließen sich womöglich unnötiger Weise operieren. Oder war es vielleicht umgekehrt sogar die Pflicht des Arztes, die prädiktive Diagnostik zu empfehlen, um Schlimmeres verhüten oder um gegebenenfalls die freudige Mitteilung einer Nicht-Belastung mit dem "Krebs-Gen" machen zu können? Und wie steht es mit der Entscheidung der zweiten jungen Frau, ihre Kinder nicht über die mögliche Gefahr zu informieren und ihnen eine entsprechende Untersuchung mit Rücksicht auf das familiäre Systemgleichgewicht zu verweigern? Durfte sie das, oder musste sie das sogar tun?

Ein weiteres, ethisch und rechtlich höchst umstrittenes Anwendungsgebiet der prädiktiven Medizin wird seit dem Ende der neunziger Jahre in das öffentliche Blickfeld gerückt. Es geht dabei um die im Rahmen der In-Vitro-Fertilisation (IVF) zunehmend diskutierte Präimplantationsdiagnostik (PID). Durch die PID würde es möglich, in vitro befruchtete Eizellen am zweiten oder dritten Tag ihrer Entwicklung zu einem implantationsfähigen Embryo auf ihre genetische Beschaffenheit hin zu testen und sie gegebenenfalls zu verwerfen.

Die PID ist für ihre Befürworter Teil einer Entwicklung, durch welche die Handlungsspielräume von Paaren bei Fortpflanzungs-Entscheidungen zunehmend erweitert würden. Genetische Risiken im Rahmen einer Schwangerschaft sollten möglichst vollständig ausgeschlossen werden. Nach Auffassung der Kritiker - zu denen auch der Autor dieses Beitrags gehört - ist die PID jedoch ethisch wie verfassungsrechtlich unverantwortlich. Womöglich, und das wäre noch die ethisch harmloseste Entwicklung, erweist sie sich als Schlüsseltechnologie für die Entwicklung von so genannten "Designer-Babys". Vor allem aber würde künftig nicht nur auf wenige, als "schwerwiegend" (von welcher legitimierten Instanz?) eingestufte Krankeiten hin getestet, sondern mehr und mehr auch auf individuell oder gesellschaftlich "unerwünschte" Charakteristika. Zudem könnte die neue "reproduktive Freiheit" schnell in die entgegengesetzte Richtung umschlagen und zu einem verstärkten sozialen Zwang zum "qualitativ hochwertigen" Kind führen.

Manipuliertes Genom

Ist der Mensch im Zeitalter der Genom- und Proteomforschung wirklich noch mehr als die Summe seiner Gene? Dürfen wir durch technische Manipulationen am Genom bestimmte biologische Entwicklungen gezielt fördern und andere gezielt hemmen, ohne die zum Beispiel im Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland verankerte Unantastbarkeit der Würde des Menschen zu beschädigen? Die zunehmenden technischen Möglichkeiten der Biomedizin stellen erhebliche Risiken dar, die ohne eine Bindung an allgemein anerkannte Moralvorstellungen nicht auf humane Weise bewältigt werden können. Ein relativierender Wertepluralismus bewiese hier nicht etwa Liberalität und Fortschrittlichkeit, sondern dokumentierte vielmehr resignative Prinzipienlosigkeit, die zu individualistischer Willkür im Umgang mit dem menschlichen Leben führen würde. Die Würde des Menschen ist ihrer Struktur nach keine empirische Größe wie Intelligenz oder Bewusstsein, sondern ein oberstes Verfassungspostulat, das selbst nicht abschließend definiert werden kann, um den möglichen Umfang seines Schutzes nicht zu begrenzen. Nur so kann seine Unantastbarkeit bewahrt werden.

Die Prädiktive Medizin birgt sicher manche, wenn auch nicht überwältigend viele Chancen, doch sie birgt mindestens ebenso große Risiken. Mit jeder neuen Entdeckung wird sich das Verhältnis von Nutzen und Gefahren ändern. "Die Erfahrung ist trügerisch und die Entscheidung ist schwierig", so heißt es bereits im 1. Aphorismus des Corpus Hippocraticum von 400 vor Christus. Diese skeptische Feststellung gilt auch für den Umgang mit der Prädiktiven Medizin.

Unsere heutigen moralischen Werte gründen in einem schwer entwirrbaren Geflecht aus evolutionären genetischen Dispositionen und kulturell erworbenen, historisch tradierten Erfahrungen. Dieses Geflecht ist keineswegs statisch, sondern es zeigt eine ständige Dynamik, die uns gelegentlich beunruhigt. Gleichwohl ist menschliche Lernfähigkeit, die darin besteht, sich rasch und mit Erfolg auf neue Konstellationen in der physikalischen wie in der psychosozialen Umwelt einstellen zu können, ein wesentlicher Grund für das Überleben unserer Spezies bis zum heutigen Tag. Diesem erstaunlichen Phänomen sollten wir ein gewisses Maß an Hoffnung, aber auch ein deutliches Maß an intellektueller Skepsis entgegenbringen. Das Gute ist nicht immer identisch mit dem Nützlichen, auch wenn dies in den Zeiten der ökonomischen Globalisierung mitunter so scheinen mag.

Der Autor ist Professor am Institut für Geschichte der Medizin an der Universität Heidelberg.

Der Text ist die gekürzte Fassung eines Referates, das Axel W. Bauer im Rahmen der Tagung "An den Grenzen des Lebens" am 21. Jänner im Bildungshaus St. Virgil/Salzburg halten wird. Nähere Informationen unter (0662) 65 9 01-514 sowie unter www.virgil.at.

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