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Seien wir dankbar fur jedes uns anvertraute Leben

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Die völlige gesetzliche Schutzlosig-keit des werdenden Kindes, vor allem in seinen drei ersten Lebensmonaten im Mutterleib, seit auch in Österreich die „Fristenlösung“ beschlossen wurde, ist unverständlich. Hier hat der Sinn und der Kampf für menschliche Gerechtigkeit gerade bei jenen, die behaupten, ein besonders fein reagierendes soziales Gewissen zu haben, völlig versagt. Kein Argument, mit dem die Befürworter des legalen Schwangerschaftsabbruches angetreten sind, ist stichhaltig. Auf die klare Feststellung, daß jeder Schwangerschaftsabbruch das Leben mindestens eines Menschen kostet, wird nicht geantwortet.

Die Frage, wann das Leben eines Menschen beginnt, ist wissenschaftlich eindeutig mit dem Augenblick der Empfängnis festgelegt. Aber Wissenschaft ist offensichtlich dann nicht gefragt, wenn sie bestimmten Absichten im Wege steht. Zweifellos hat die positive Einstellung zum Kind in der Bevölkerung durch dieses antimenschliche Gesetz einen schweren Schlag erlitten, dessen Folgen nicht bedacht wurden und die in ihrem ganzen Ausmaß noch gar nicht abzusehen sind.

In allen Ländern mit legalem Schwangerschaftsabbruch übersteigt die Zahl der legalen weit die der vorausgegangenen und weiterbestehenden illegalen Abortus, so daß man damit rechnen kann, daß in solchen Ländern bald mehr Kinder auf diese Weise umkommen, als zur Welt kommen. Damit verbunden ist die Zunahme geschädigter und damit behinderter Kinder. Durch die Manipulationen an der Gebärmutter, wie sie beim Schwangerschaftsabbruch vorgenommen werden, kommt es, sta? tistisch gesehen, bei nachfolgenden Graviditäten zu einer Häufung von Fehlgeburten, aber auch Frühgeburten — Risikokinder für eine Hirnschädigung. Auch wenn durch die Errichtung von Neugeborenen-Inten-sivstationen die Behandlung solcher Frühgeburten besser und damit die Schadensfolge geringer geworden ist, begreift man nicht, warum das Justizministerium mit dem Gesetz der Fristenlösung geradezu dem Entstehen solcher gesundheitsschädlichen Folgen Vorschub leisten kann. Die parlamentarische Behandlung des Volksbegehrens gibt dem Parlament die Chance, einen schweren Fehler rückgängig zu machen. Man wird daran erkennen können, wie ernst der mit schwacher Mehrheit beschließenden Regierungspartei das Grundrecht des Menschen, am Leben zu bleiben, wirklich ist.

Eine „Indikationslösung“ muß mit der gleichen Begründung abgelehnt werden wie die Fristenlösung. Die Menschen sind nicht Herr über Leben und Tod unserer Mitmenschen, auch nicht über das unserer eigenen Kinder, nicht der gesunden und nicht der kranken. Wir haben zweifellos die Verantwortung — solange es sittlich einwandfrei ist —, das in unserer Macht Liegende zu tun, um die Zeugung eines „sicher“ schwerkranken Kindes zu vermeiden. Wir haben aber kein Recht, einmal entstandenes, auch krankes Leben, zu welchem Zeitpunkt immer und auf welchem Wege immer, mutwillig zu zerstören.

Die „pränatale Frühdiagnostik“ von geschädigten Kindern, also die Feststellung etwa von Chromosomenanomalien oder gewisser schwerer angeborener Stoffwechselleiden in der zweiten Hälfte des ersten Drittels der Schwangerschaft mit Hilfe der Amniozentese ist nur insofern zu befürworten, als die Möglichkeit des Ausschlusses des Vorliegens einer solchen Krankheit schon früh in der Schwangerschaft gegeben ist, was sicher einen wichtigen Beruhigungsfaktor darstellt. Im umgekehrten Falle allerdings würde das Feststellen einer bestehenden Erkrankung des zu erwartenden Kindes zu einer doch schweren seelischen Belastung von Mutter und Angehörigen führen. Die Frage, ob eine so frühzeitige, vorgeburtliche Diagnostik angewendet werden soll, ist deshalb sehr streng zu überlegen.

Wie jeder Mensch, so fragt besonders der Arzt und vor allem der Kinderarzt auch nach dem Sinn der Krankheit gerade bei Kindern; warum es schwer geschädigte Kinder gibt, warum gerade diese oder jene Familie vom Schicksal so verfolgt wird, warum wir nicht oder nicht besser helfen können. Das menschliche Leid ist ein ebenso großes Geheimnis und oft eine ebenso große Kraft wie die echte menschliche Freude, wie das Leben selbst. Wir staunen mit Recht über ein neugeborenes Kind, aber ist es nicht eine zumindest ebenso staunenswerte Tatsache, daß irgendeiner von uns nicht hätte entstehen und werden können?

Es ist auch nicht so, daß wir uns Kinder „leisten“ oder nicht leisten können. Natürlich können wir vieles tun, um die biologischen Voraussetzungen zur Entstehung eines menschlichen Lebens zu schaffen — oder zu verhindern. Aber dieser Zeugungsakt besteht, vermutlich wegen seiner gewaltigen Folgen, nicht nur in einer leiblichen Hingabe, sondern ist, menschlichen Dimensionen entsprechend, in einen Akt der menschlichen Liebe eingebettet. Und auch diese ist ein nicht leicht erschließbares Geheimnis.

Daran ändert auch nichts, daß es zu viele Menschen gibt, die diese menschlich große Fähigkeit, zu lieben, immer wieder in den Dreck ziehen. Diese große Fähigkeit des Menschen, zu lieben, kommt auch den Kindern zugute. Die meisten Eltern bekennen sich zu ihrem Kind.

Als Kinderarzt erlebe ich auch die ganz besondere Sorge und Liebe der Eltern zu ihren kranken Kindern, den chronisch kranken und den behinderten. Es ist ein großes Glück, daß es so ist. Es ist überhaupt ein großes Glück, daß Kinder Eltern haben; daß behinderte Kinder Eltern haben, die sie lieben und die sich für sie einsetzen, ist ein noch viel größeres Glück.

Wenn die Gesellschaft, die Gemeinschaft der Bürger eines Landes, eine soziale Verpflichtung hat, dann sicher gegenüber den behinderten Menschen und deren Familien. Zuerst sollte stets der Selbsthilfe der Vorrang gegeben werden, auch für das Problem des behinderten Menschen, schon weil das Erlebnis allein, selbst etwas gut gemacht zu haben, notwendig und bereits Hilfe ist. Hier besteht aber oft das Problem der Überforderung für alle von einem solchen unverschuldeten Leid Betroffenen. Diesen Menschen haben wir zu helfen, in praktischen äußerlichen und in menschlichen innerlichen Bereichen. Vor allem brauchen wir eine Intensivierung der wissenschaftlichen Erforschung der Probleme der Hirnschädigung. Sie ist so wichtig wie die Krebsforschung. Der behinderte Mensch darf kein Außenseiter der Gesellschaft sein.

Wenn man viel mit Kindern zu tun hat, stellt man sich auch die Frage, warum wir unsere Kinder gern haben, was sie eigentlich so liebenswert macht? Gewöhnlich wird dann auf die Schutzbedürftigkeit dieser kleinen menschlichen Wesen verwiesen. Wir sind aber nicht nur zum Schutze ihres zarten Lebens aufgerufen, sondern schöpfen mit jedem neu zu erwartenden Erdenbürger auch selbst neue menschliche Hoffnung. Vermutlich hängt der Volksausdruck, eine Schwangere sei „in der Hoffnung“, damit zusammen.

Die Kinder beglücken uns durch ihre klare seelisch-geistige Ausstrahlung, durch ihre Reinheit, ihre Wahrhaftigkeit, ihre entwaffnende, geradezu kosmische Offenheit, ihr grenzenloses Vertrauen, ihre unbeschwerte Fröhlichkeit, ihre Freude, die in gleicher Weise auch beim behinderten Kind da ist, ja oft noch spürbarer, vielleicht wegen des Kontrastes zu seinem Versehrten Körper. Es ist, als dürften wir uns an diesem menschlich richtigen Verhalten des Kindes immer neu orientieren, neu Hoffnung schöpfen, als ließe unschuldiges kindliches Wesen uns immer wieder einen Blick in das verlorene Paradies tun.

Seien wir deshalb dankbar für diese Hoffnung, seien wir dankbar für jedes einmal gezeugte und damit uns anvertraute Kind, damit diese so wichtige menschliche Hoffnung mit jedem Kind weitergegeben werden kann. Lassen wir uns durch keine menschliche Niedertracht, woher immer sie auch kommen mag, beirren, und vergessen wir trotz allem nicht die Verlassenheit und Not jener Menschen, die Kinder nicht mögen, denen Kinder unerwünscht sind, die Kinder hassen, es sind arme Menschen, weil sie ohne Hoffnung sind.

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