6612022-1955_06_04.jpg
Digital In Arbeit

Soziale Indikation?

Werbung
Werbung
Werbung

Die gegenwärtig in Oesterreich unkontrolliert und fast unbeschränkt durchgeführte Tötung der Kinder im Mutterleib kann nicht länger schweigend hingenommen werden. Oesterreich ist gegenwärtig das an Geburten ärmste Land Europas. Die Stadt Wien hatte im Jahre 1953 nur noch 12.161 Geburten, während es 1948 noch 20.757 waren, obwohl schon dieses Jahr einen Tiefstand bei einer Stadt von beinahe 2 Millionen Einwohnern darstellt. Die Zahl der Abtreibungen im Verhältnis zu der der Geburten wird an manchen größeren Krankenhäusern mit 10:1 geschätzt und die Gesamtzahl der Abtreibungen in Oesterreich mit etwa 200.000 pro Jahr.

Dies sind Schätzungen, dagegen lassen sich aus gewissen statistischen Zahlen zumeist für Wien deutliche Anhaltspunkte dafür gewinnen, was tatsächlich im geheimen vor sich geht. Sieht man sich die von der Wiener Gebietskrankenkasse veröffentlichte Statistik über die Zahl der in Spitalspflege verbrachten Tage aufgeschlüsselt nach Geschlecht und nach Lebensalter an, so fällt auf, daß in der Altersklasse 1 bis 19 Jahre Männer und Frauen sich die Waage halten. In den Jahren von 20 bis 25, also im besten Lebensalter, überwiegen die Frauen um mehr als das Doppelte. Von 26 bis 30 Jahren sogar beinahe um das Dreifache, während sich im Matronenalter der Unterschied wieder ausgleicht. Warum liegen diese jungen Frauen in den Krankenhäusern? Sieht man sich die Aufgliederung nach Krankheitsursache an, so findet man, daß an zweiter Stelle in der Gesamthäufigkeit die Erkrankungen der Harn-und Geschlechtsorgane erscheinen, und aus einer anderen Statistik ist zu entnehmen, daß hier die Frauen über mehr als das Dreifache der Kranken stellen als die Männer. Solche Zahlen sprechen eine eindeutige Sprache.

Wenn angesichts dieser Tatsachen behauptet wird, die Abtreibung hat mit der Volksgesundheit nichts zu tun, so muß dem scharf entgegengetreten werden. Zunächst einmal sind diese Eingriffe, besonders, wenn sie wiederholt durchgeführt werden, selbst bei der vorzüglichen medizinischen Technik, die hier zu einem Unglück wird, keineswegs völlig harmlos. Im vorigen Jahr sind an derartigen Eingriffen 68 Personen gestorben, das sind mehr als doppelt so viel als bei normalen Geburten. Gynäkologen erklären auch, daß sich häufig chronische entzündliche 'Veränderungen an Abtreibungen anschließen, und vor allem ist zu bedenken, daß durch wiederholte Störungen des biologischen Ablaufes dauernde Unfruchtbarkeit erfolgen kann. Nicht selten bleibt Frauen, die zunächst selber oder gedrängt von Verwandten Abtreibungen geduldet haben und in reiferem Alter sich ein Kind wünschen, dieser Wunsch nun unerfüllbar. Auch das Auftreten von extrauterinen Schwangerschaften soll zum Teil mit diesen Verhältnissen im Zusammenhang stehen.

Nicht immer ist die junge Mutter das treibende Moment bei den kriminellen Eingriffen. Die normale Empfindung, besonders bei jungen Müttern, wehrt sich vielmehr gegen diese Dinge. Häufiger dringen die Eheraänner auf Abtreibung. Ungünstig wirkt sich auch die Ueberalterung unseres Volkes dahin aus, daß in den Wohnungen häufig ältere Leute, besonders ältere Frauen als Mitbewohner hetzen, denen die Ankunft eines Säuglings lästig wäre. Aus den wenigen gerichtlich verfolgten Fällen kann man entnehmen, daß es sogar in nicht seltenen Fällen die eigene Mutter ist, die der Tochter zur Abtreibung rät.

Vielfach wird dabei ins Treffen geführt, die Frau müsse freie Verfügung über ihren Körper haben. Demgegenüber ist festzuhalten, daß die Frucht im Mutterleib ein unabhängiges fremdes Lebewesen ist; und zwar nicht nur theologisch und juristisch, sondern ebenso in biologischer Hinsicht. Tötung der Leibesfrucht ist daher Tötung fremden menschlichen Lebens.Die Frage, wie diese Tötung vom Täter subjektiv betrachtet wird, kann daran nichts ändern. Vor kurzem wurde über einen brutalen Kindesmord berichtet, bei dem die Mutter vor Gericht als „Entschuldigung“ angab, die Familie habe sich einen Motorroller anschaffen wollen. Damals gab es allgemeines Entsetzen. . Hätte die Frau aus den gleichen Motiven die gleiche Tat wenige Monate früher begangen, so wäre man darüber mit einem Lächeln hinweggekommen. Eine übertriebene Propaganda für die Erhöhung des „Lebensstandards“ gefährdet also den Nachwuchs.

Allerdings bieten häufig elende Löhne, bedrängte Verhältnisse und überfüllte Wohnungen einen Anreiz zur Schwangerschaftsunterbrechung, der in einzelnen Fällen zu verzweifelter Seelenlage führen kann. Diese soziale Indikation muß anerkannt werden, aber nicht als eine Indikation zur Tötung, sondern zur wirksamen Hilfe für die Familie.

Der vorgegebene Grund für die Abtreibung ist in fast allen Fällen eine sogenannte medizinische Indikation. Diese medizinische Indikation erkennt die Schulmedizin entgegen der strengeren Forderung der christlichen Moral dort an, wo dem Arzt zur Erhaltung des mütterlichen Lebens oder zur Abwehr drohender Lebensgefahr in der Zukunft kein anderer bekannter Ausweg bleibt als die Unterbrechung der Schwangerschaft. Derartige Fälle sind äußerst selten. Sie sind bei den Fortbildungskursen der Wiener Medizinischen Fakultät besprochen worden und fallen zahlenmäßig überhaupt nicht ins Gewicht. Das bedeutet, daß eine Anzahl von Aerzten sich ein Geschäft daraus macht, bewußt falsche Zeugnisse abzugeben und daß eine Anzahl anderer Aerzte bewußt die seit mehr als zwei- Jahrtausenden feststehenden Grundsätze der ärztlichen Ethik, die schon im hippokrati-schen Eid ausgedrückt ist, außer acht läßt. Dies kann von der medizinischen Schule nicht wortlos hingenommen werden, weil die Käuflichkeit ärztlicher Atteste die Grundvoraussetzung des Handelns des Arztes, nämlich das Vertrauen, untergräbt. Es ist ausschließliche Pflicht des Arztes, Krankheiten zu heilen und da Leben unter allen Umständen zu verlängern. Wenn 'man nachweislich aus naturrechtlichen Gründen die Tötung von Krüppeln, Geisteskranken und anderen Gruppen von Menschen entrüstet ablehnt, dann kann man das Naturrecht in der Frage der Tötung der Ungeborenen nicht außer acht lassen.

Was ist zu tun? Zunächst einmal ist mit allen technischen Mitteln der modernen Propaganda zu versuchen, die Achtung vor dem Leben und die Opferwilligkeit, die dieser Achtung gebracht werden muß, wiederherzustellen. Die Mutter muß von der Oeffentlichkeit in jeder Beziehung mehr Anerkennung finden und darf nicht, wie es heute oft geschieht, sogar dem Spott einer unvernünftigen Umgebung preisgegeben sein. Intensive karitative Tätigkeit muß sich aller Fälle annehmen, in denen schwere seelische Konflikte auftreten oder die wirtschaftliche Existenz bedroht ist. Der katastrophale Geburtenrückgang kann aber keinesfalls durch eine Zunahme von Fällen, bei denen eine Abtreibung auf Grund einer echten „sozialen Indikation“ vorgenommen wird, erklärt werden, da ja der wirtschaftliche Aufschwung seit 1948 auf der Hand liegt. Besonders notwendig ist es, im Volk eine optimistische Auffassung der Zukunft zu erreichen und die Irrlehre zu bekämpfen, daß Bevölkerungszunahme zu Hunger und Verarmung führen müsse. Von russischen Gelehrten müssen wir uns sagen lassen, daß die Abtreibung eine kannibalische Methode sei — es ist aber deswegen nicht weniger wahr. Nicht scharf genug kann betont werden, daß die Seuche der Abtreibung nicht unter dem arbeitenden Volk und nicht unter den „kleinen Leuten“, sondern i m wohlhabenden Bürgertum entstanden ist und erst sekundär von der Arbeiterklasse übernommen wurde. In Diskussionen über das Thema kann man immer wieder hören: Die Abtreibung darf nicht ein Vorrecht der besitzenden Klasse bleiben. Dem ist schlechterdings nur beizupflichten. Es wäre allerdings Heuchelei, zu behaupten, daß dief heute so ist. Der kriminelle Eingriff ist derzeit für jeden erschwinglich, obwohl möglicherweise die finanzielle Belastung von einzelnen stärker empfunden wird. Man könnte dieses Problem in der denkbar einfachsten Weise dadurch lösen, wenn man im Gesetz bestimmen würde, daß die Höhe des verlangten Honorars als ein erschwerender Grund bei der Bemessung der Strafe gewertet würde. Es wäre wünschenswert, wenn die ärztliche Indikation, so wie es in einem heute nicht mehr geltenden Gesetz von 1937 vorgesehen war, wenigstens von einem Gremium von Fachärzten überprüft würde und nicht dem Dafürhalten gewissenloser einzelner überlassen würde. Der Kampf gegen die Abtreibung ist kein parteipolitischer Kampf, die Seuche reicht weit in beide Lager hinein. Wenn alle gut gesinnten Kräfte angespannt werden, um den Kampf gegen die Verfallserscheinung aufzunehmen, so dürfen wir hoffen, daß. ebenso wie es in anderen Ländern teilweise gelungen ist, auch bei uns wipdpr normal* Virhälrmcc# *intr**,

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung