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Soziologie des weißen Todes

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Der Artikel handelt von der k r i m i n e 11 e n Fruchtabtreibung in Oesterreich innerhalb von etwas mehr als vier Jahren (1950 bis 1953). Es ist also nicht von Schwangerschaftsabbrüchen (Interruptionen) schlechthin die Rede.

Die 2850 Personen, die in dieser Zeit wegen krimineller Abtreibung rechtskräftig verurteilt wurden, repräsentieren etwas von der großen Verschiedenheit, die zweifellos besteht. Gewisse Gruppen sind in der Auslese gut vertreten und die Schlüsse, die aus den über sie erliegenden Angaben gezogen werden, dürfen mit einiger Sicherheit auf den unbekannten Teil ausgedehnt werden, ich meine damit jene Personen, die zwar gegen das Gesetz gehandelt haben, deren Verhalten jedoch aus irgendeinem Grunde ungeahndet blieb. Aridere Gruppen sind in der Auswahl nicht so gut vertreten, wir können über das Verhalten dieses Bevölkerungsteiles gegenwärtig nichts aussagen.

Die Vorstellungen der meisten Menschen über die gegenständliche Verhaltensweise beruht zum größten Teil auf ihren eigenen Erfahrungen, auf fragmentarischen Informationen, auf Berichten in Zeitungen und Zeitschriften und auf Klatsch-. Die tägliche Erfahrung hat uns gelehrt, daß die Bekanntschaft mit einer kleinen Auslese von Individuen uns in gewissen Grenzen praktisch einen Einblick in die Verhaltensweise der größeren Gruppe vermittelt. Schließlich beruhen die meisten Verallgemeinerungen, mit deren Hilfe wir leben, auf einer beschränkten Anzahl von Erfahrungen, die die meisten Menschen trotzdem für hinreichend halten, um diese Verallgemeinerungen zu rechtfertigen.

Es muß betont werden, daß uns hier nicht das Problem eines einfachen Zahlenüberschlags über Vorkommen und Häufigkeit der Fruchtabtreibung beschäftigt. Man befaßt sich ja häufiger mit der Analyse der Beziehungen zwischen den Phänomenen, alj nur mit der Registrierung des Vorkommens solcher Erscheinungen. Kausalbezeichnungen oder Paralleleffekte können dadurch aufgedeckt werden, daß man die jeweiligen Vorkommen von Erscheinungen in verschiedenen Gruppen von Individuen und ihre Verteilung in bezug auf ökologische, geographische oder andere Faktoren miteinander vergleicht.

Die Wahl des (soziologischen) Betrachtungspunktes rechtfertigt, in periphere Bereiche einzudringen, die dem flüchtigen Beobachter möglicherweise zu weitab zu liegen scheinen. Es wurde daher aus den vorhandenen statistischen Unterlagen' nur das herangezogen, was irgendwie dazu beitragen kann, etwas Licht in soziologische Zusammenhänge zu bringen, und so unsere Kenntnisse über Ursachen und Verbreitung eines menschlichen Verhaltens zu erweitern, dem — mag man es nun zugestehen oder nicht — infolge seiner Auswirkungen auf das Zusammenleben der Menschen große Bedeutung zukommt.

Bevor ich mich dem Thema zuwende, zunächst noch einige grundsätzliche Erwägungen zum Problem der Abtreibung!

Zu diesem Zweck ist es unerläßlich, sich folgende unumstößliche Daten über die kriminelle Fruchtabtreibung vor Augen zu halten:

Von den 2850 rechtskräftig Verurteilten sind 2098 Frauen und 752 Männer. 1307 Frauen wurden gemäß 144 OeStGB. (kurz: Abtreibung der Leibesfrucht) verurteilt, 752 Männer und 791 Frauen gemäß 146 OeStGB. (kurz: Mitschuld an der Abtreibung der Leibesfrucht). Aus der Zahl der nach 144 Verurteilten ist leicht zu errechnen, daß die jährlich in ganz Oesterreich gerichtlich geahndeten Abtreibungsfälle die Zahl von 300 nicht weit überschreiten. Nicht anders verhält sich die Sache, wenn man das Graphikum 1 (siehe oben) betrachtet. Der zuletzt genannten Zahl stehen — von den letzten Jahren her gesehen — rund

1 Kriminalstatistik für die Jahre 1950 bis 1953, herausgegeben vom Bundesministerium für Justiz.

100.000 Lebendgeburten und 2000 Totgeburten pro Jahr gegenüber. Zweifellos sind diese 300 Fälle pro Jahr nicht die Ursache für die immer wiederkehrenden heftigen und leidenschaftlichen Diskussionen um das Abtreibungsproblem.

Und so drängt sich denn die Frage auf: Wie ist diese seltsame Erscheinung “zu erklären?

Die Untersuchung stellt lediglich das statistisch dar, was erwiesenermaßen unter den Begriff der kriminellen Fruchtabtreibung fällt. Es sind also nur die wirklich gesicherten Fälle bearbeitet worden, nämlich jene, deren kriminelle Natur in einem Gerichtsverfahren unanfechtbar festgestellt wurde. Sie sind ein Teil der kriminellen Fruchtabtreibung überhaupt. Die Zahl aller kriminellen Abtreibungen wird aus mannigfachen Gründen selbst bei Entwicklung feinster Methoden nie genau feststellbar sein. Die Gesamtzahl der Abortusse ergäbe sich, wenn man zu den kriminellen Fruchtabtreibungen die Zahl der ,,spontanen“ Abortusse und die Zahl der vorzeitigen Schwangerschaftsbeendigungen durch medizinische Indikation addierte.

Ich glaube, als den wichtigsten Faktor die Verteilung der Verurteilten nach ihren B erufen herausheben zu müssen, um so die Möglichkeit zu haben, die soziale Herkunft und die durch das Milieu bedingten Umweltseinflüsse zu studieren. (Graphikum Nr. 2.) Die nach Männern und Frauen unterschiedliche Besetzung der Berufe machte eine Auswahl der Berufe notwendig.

Unter den Schwangeren (so werden im folgenden die nach 144 OeStGB. Verurteilten bezeichnet) fallen besonders die Hilfs- und Landarbeiterinnen auf, und in den Gruppen der hauswirtschaftlichen Berufe, der Textil und Bekleidungshersteller sowie der Hotel- und Gaststättenberufe sind es die Hausgehilfinnen, die Schneiderinnen, die Kellnerinnen, welche die hohen Anteile verursachen. Allerdings sind damit noch nicht genügend Anhaltspunkte gegeben, um etwas zu der Behauptung sagen zu können, daß nur die vom Schicksal stiefmütterlich Bedachten, also Angehörige der finanziell schwächeren Schichten, vom Arm der Justiz erreicht würden. Lassen doch die übrigen berufstätigen Frauen, vor allem die berufslosen und die im Haushalt tätigen Frauen, die zusammen nahezu zwei Drittel der verurteilten Schwangeren umfassen, überhaupt keinen Schluß in dieser Richtung hin zu.

Dagegen erlauben die Ergebnisse de“r Berufsgliederung wohl, die Behauptung zu widerlegen, daß die Berufstätigkeit der Frau ein wesentliches Motiv für die vorzeitige Schwangerschaftsbeendigung sei. Es zeigte sich, daß der Anteil der Berufstätigen unter den verurteilten Schwangeren nur geringfügig höher ist als bei den gebärfähigen Frauen insgesamt.

Bei den männlichen wie bei den weiblichen Mitschuldigen geht das Hauptinteresse dahin, die Rolle zu fixieren, die Aerzte, Hebammen und krankenpflegerisch ausgebildetes Hilfspersonal spielen. Es erweist sich, daß Aerzte nur in geringer Zahl vertreten sind, daß demnach die Durchführung der Abtreibungen in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle völlig unsachgemäß geschehen sein muß. Dies ist mit Rücksicht auf die Betroffenen um so bedauerlicher, als allgemein zugegeben wird, daß selbst von ärztlicher Seite durchgeführte Interruptionen nicht gefahrlos sind und häufig gesundheitliche Schädigungen als Folgeerscheinungen auftreten. Sollte man berechtigt sein, diese Verhältnisse als charakteristisch auch für die Abtreibungsfälle anzusehen, die nicht zur Kenntnis der Gerichte gelangen, so kann sicher von einer nicht unbedeutenden Schädigung der biologischen Volkskraft gesprochen werden, insbesondere deshalb, weil es sich hauptsächlich um junge Frauen handelt.

Fast drei Viertel der Schwangeren waren unter 30 Jahren, 13 Prozent sogar weniger als 20 Jahre und nur 4 Prozent über 40 Jahre alt. Dagegen hat von den weiblichen Mitschuldigen genau die Hälfte das 40. Lebensjahr bereits überschritten. (Graphikum Nr. 3.)

Bemerkenswert ist die Tatsache, daß die Verurteilungsquote nach dem Familienstand stark variiert. (Graphikum Nr. 4.) Dabei fallen in erster Linie die hohen Quoten der Geschiedenen auf, was um so stärker ins Gewicht fällt, als z. B. die Schwangeren hauptsächlich Jahrgängen angehören, in welchen die Anteile der Geschiedenen noch gering sind. Bei den weiblichen Mitschuldigen ist zwar die Beteiligung der älteren Jahrgänge stärker, es übersteigt aber auch die Quote der Geschiedenen die der Ledigen um ein Vielfaches. Bei den Schwangeren wie bei den männlichen Mitschuldigen weisen die Ledigen höhere Quoten auf als die Verheirateten. Dies würde auf eine erhöhte „Anfälligkeit“ bei außerehelichen Verbindungen hinweisen.

Von den verurteilten ledigen und geschiedenen Schwangeren waren 14 Prozent Unehelichgeborene.

Die Frage, ob die Abstammung aus einer außerehelichen Verbindung von großem Einfluß auf das gegenständliche kriminelle Verhalten ist, kann beantwortet werden, wenn man die Verurteiltenquoten der Unehelichgeborenen mit jenen der Ehelichgeborenen vergleicht. Selbst wenn man berücksichtigt, daß die Sterblichkeit der Unehelichgeborenen etwas höher ist als die der Ehelichgeborenen, ist von einer wesentlich stärkeren Disposition bei Unehelichgeborenen keine Rede.

Ein beträchtlicher Teil der Verurteilten (etwas mehr als ein Viertel) ist bereits vorbestraft, wobei die wegen des gleichen Verbrechens schon einmal Verurteilten vor allem (zu drei Vierteln) unter den als Mitschuldige verurteilten Frauen zu finden sind. Diese weisen auch weitaus die größte Anzahl von mehrmaligen Vorstrafen wegen Abtreibung auf. Unter den Schwangeren ist die Zahl der Vorbestraften viel geringer, die Vorstrafen wurden fast ausschließlich wegen anderer Verbrechen verhängt, vorwiegend wegen verbrecherischer Vermögensdelikte.

Diese Umstände weisen im Verein mit der Tatsache, daß mehrere Vorstrafen verhältnismäßig häufig vorkommen (im Durchschnitt entfallen auf einen Vorbestraften zwei Vorstrafen), darauf hin, daß ein nicht zu unterschätzender Teil der Verurteilten, mehr oder weniger ausgeprägt, allgemein-kriminelle Neigungen besitzt, insbesondere aber, daß in dieser Personengruppe die gewerbsmäßige Abtreiberei betroffen ist.

Aus einer Betrachtung der regionalen Verteilung der Verurteilten ergeben sich insoferne soziologische Aspekte, als in weitgehendem Maße Abhängigkeiten von geographischen Gegebenheiten vorhanden sind, die sich in bestimmten Gesellschaftsformen objektivieren. Man denke an die grundverschiedenen Voraussetzungen, die sich aus der Verschiedenheit der Bodengestaltung, der Nutzbarkeit des Bodens, der Siedlungsweise ergeben und die zur Ausbildung mannigfacher Formen des gemeinschaftlichen Lebens führen. Man stelle sich den Unterschied im Zusammenleben der Menschen vor: in einem abgeschlossenen Gebirgsdorf, in der Eigenart des Kleinstadtmilieus, in der Großstadtsphäre; die verschiedenen wirtschaftlichen Bedingungen, die z. B. für Vorarlberg und das Burgenland gegeben sind; die Unterschiede in der geistigen Haltung der Bevölkerung, zum Beispiel Tirols und Wiens.

Gerade die Großstadt wild im Zusammenhang mit dem Verbrechen der Abtreibung immer in erster Linie und fast ausschließlich gebrandmarkt. Eine Untersuchung der Verurteilungsquoten nach Gemeindegrößenklassen erbrachte jedoch eine zunächst überraschende Verteilung. (Graphikum Nr. 5.)

Die Verurteilungsquote der Schwangeren ist gerade in Wien, der einzigen Millionenstadt, am geringsten, sogar geringer als in den Gemeinden mit weniger als 200 Einwohnern. Bezüglich der Verurteilungsquote der Mitschuldigen steht Wien allerdings an viertletzter Stelle. Die höchste Verurteilungsquote findet sich bei der Gruppe der Gemeinden zwischen 20.000 und 50.000 Einwohnern.

Es ist naheliegend, die Ursache dieser den aus der Erfahrung abgeleiteten Vermutungen so widersprechenden Verteilung in den verschiedenen Voraussetzungen für die Anzeigetätigkeit zu suchen. In der Großstadt, wo jeder ein Leben nahezu völliger Anonymität führen kann, sind die Bedingungen für Anzeigen ungünstig. In den kleinen Gemeinden der vorwiegend bäuerlichen Gegenden mögen leichtere Unterkunfts- und Arbeitsmöglichkeiten für die Bodenständigen, aber auch die stärkeren religiösen Bindungen, die im bäuerlichen Leben gegeben sind, für die tatsächlich geringere Abtreibungstätigkeit bestimmend sein. Die besten Bedingungen für die Aufdeckung von „Affären“ scheinen die Klein-und Mittelstädte zu bieten, wo einer den anderen kennt.

Die weiblichen Mitschuldigen, in der Hauptsache wohl die „Nutznießer“ dieses Delikts, sind mit höheren Anteilen vor allem in den Mittel- und Großstädten (ohne Wien) vertreten. ■ -

Auch in der bundesländerweisen Verteilung der Verurteilten kommen die obengenannten Bedingungen zum Ausdruck. Wien kann unter allen Bundesländern die niedrigste Verurteilungsquote für sich buchen. Ueberdurchschnittliche Verurteilungsquoten weisen Oberösterreich und nach ihm Niederösterreich und Salzburg auf. Bei Oberösterreich muß berücksichtigt werden, daß es besonders viele Ausländer beherbergt; von den 270 in Oesterreich rechtskräftig verurteilten Ausländern belastet fast die Hälfte allein das Konto Oberösterreichs. Ueberdies muß auch die besondere Lage von in Notwohnungen Untergebrachten beachtet werden. Von insgesamt 49 in Lagern (Baracken) wohnhaften verurteilten Schwangeren des Bundesgebietes entfielen 35 allein auf Oberösterreich.

Betrachtet man die Gliederung der Verurteilten nach Bundesländern, so drängt s;ch ein Vergleich mit der Verteilung der unehelichen Geburten auf, und man ist geneigt anzunehmen, daß in Gebieten mit überdurchschnittlichen Unehelichenziffern (Salzburg, Kärnten, Steiermark) die Zahl der Abtreibungen geringer sein müßte, da allem Anschein nach die außerehelichen Schwangerschaften in der Regel zur Austragung kommen. Dem kann allerdings entgegengehalten werden, daß sowohl die außereheliche Schwangerschaft als auch die Abtreibung Ausdruck der Mißachtung moralischer Gesetze sind, so daß beides sehr gut auch nebeneinander gehäuft vorkommen kann.

Die Tatsachen erweisen, daß die Verhältnisse nicht so unkompliziert sind, daß sie durch eine einfache Abhängigkeit erklärbar wären. Es muß ein Zusammenwirken mehrerer Faktoren vorliegen, denn einmal stehen hohe Verurteilungsquoten hohen Unehelichenziffern gegenübel (Salzburg) oder unterdurchschnittliche Verurteilungsquoten unterdurchschnittlichen Unehe-lichenquoten (Wien, Tirol, Vorarlberg), dann wieder finden sich niedrige Verurteilungsquoten in Bundesländern mit hohen Unehelichen-anteilen (Steiermark, Kärnten) oder umgekehrt hohe Verurteilungsquoten bei niedrigen Unehelichenziffern (Niederösterreich, Oberösterreich). — Im übrigen darf jedoch die Bedeutung der unehelichen Schwangerschaften im Zusammenhang mit der Abtreibung nicht überschätzt werden, denn annähernd die Hälfte der verurteilten Schwangeren ist verheiratet.

Die Verfolgung der in den vorliegenden Betrachtungen aufgegriffenen Gedankengänge führt vor Augen, daß vielerlei Momente berücksichtigt werden müssen, will man das Problem der Abtreibung in seiner ganzen Tiefe erfassen, wobei allerdings zu bedenken ist, daß ein Bloßlegen der Wurzeln, die ins rein Menschliche führen, nie ganz möglich sein wird. Fürs erste wurde versucht, die vielerlei Aspekte der kriminellen Abtreibung zu überblicken. Es schien wünschenswert, eine so breite Uebersicht anzustreben, um späteren intensiveren Untersuchungen, die der Verfasser oder andere vielleicht unternehmen werden, Richtlinien zu bieten.

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