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Kernspaltung der Familie
Wie hat sich die Situation der Familie im vergangenen Jahrzehnt in Österreich entwickelt? A us dem verfügbaren statistischen Datenmaterial läßt sich einiges herauslesen.
Wie hat sich die Situation der Familie im vergangenen Jahrzehnt in Österreich entwickelt? A us dem verfügbaren statistischen Datenmaterial läßt sich einiges herauslesen.
Manche der Entwicklungen machen uns darauf aufmerksam, daß sich - langsam und in der Hast der Tagesereig- nisse unbemerkt - unsere Werthaltungen und Einstellungen verändert haben. Welche Merkmale sind es also, die die Entwicklung in den siebziger Jahren kennzeichnen?
Auffallend ist zunächst der massive Rückgang der Geburtenzahlen. Seit dem Jahr 1964, in dem Österreich mit 18,5 Geburten je 1000 Einwohnern den höchsten Wert nach dem Zweiten Weltkrieg erreicht hatte, sank die Geburtenrate bis 1978 auf 11,3. Obwohl sie 1979 geringfügig anstieg, war dies noch nicht auf eine höhere Bereitschaft, Kinder zu bekommen, zurückzuführen. Vielmehr
ist die Zahl der jungen Frauen im gebärfähigen Alter gestiegen.
Die Reproduktionsrate - sie gibt Auskunft über die Fruchtbarkeit der Bevölkerung - hat 1979 nämlich einen Tiefpunkt erreicht: Ihr Wert von 0,77 besagt, daß im Durchschnitt jede Frau weniger als eine Tochter zur Welt bringt (auf 100 Frauen kamen 77 Töchter). Auf lange Sicht würde eine solche Situation dazu führen, daß jede weibliche Generation nur zu 77% ersetzt werden kann, was einen Bevölkerungsrückgang um etwa'25% in jeder Generation anzeigt.
Allerdings zeigt sich auch bei der Reproduktionsrate seit dem dritten Quartal 1980 eine Aufwärtsentwicklung, womit Österreich jedoch nach der Bundesrepublik Deutschland immer noch die niedrigste Geburtenfreudigkeit aller Länder aufweist.
Eine nähere Betrachtung der Geburtenzahlen läßt erkennen, daß vor allem die Zahl der Familien mit vier oder mehr Kindern stark rückläufig ist: 1963 waren noch 20% der ehelichen
Kinder vierte, fünfte oder höherrangige Kinder in der Familie. 1979 war dieser Anteil auf unter 10% gesunken.
Damit läßt sich ein stark ausgeprägter Trend weg vom Kind feststellen. Er betrifft vor allem die Bereitschaft, eine Familie mit mehr als zwei Kindern zu gründen. Die Ein-Kind-Familie wird langsam das Normmodell.
Diese Entwicklung trägt dazu bei, daß die Haushaltsgröße weiterhin abnimmt. In einem österreichischen Haushalt leben im Durchschnitt weniger als 3 Personen miteinander (1977 betrug dieser Wert 2,8 Personen).
Dies ist auch auf den ständig steigenden Anteil der Ein-Personen-Haushalte zurückzuführen. Von 1961 bis 1977
stieg dieser Wert von 20% aller Haushalte auf 26%. Mehr als jeder vierte österreichische Haushalt wird heute von nur einer Person bewohnt!
Ein wichtiger Grund dafür liegt in der Altersstruktur der österreichischen Bevölkerung: Sie weist im internationalen Vergleich einen sehr hohen Anteil von Personen auf, die älter als 65 Jahre sind. Besonders ausgeprägt ist diese Erscheinung in Wien: Schon 1971 war jeder fünfte Wiener älter als 65 Jahre.
In der Entwicklung der Haushaltsgrößen spiegelt sich somit das weiterhin anhaltende Auseinanderbrechen der Mehrgenerationenfamilie und die zunehmende Vereinsamung des Alters wider.
Dieser an zwei Entwicklungen dargestellte Schrumpfungsprozeß der Familieneinheiten wird zusätzlich verstärkt durch eine wachsende Instabilität der Beziehung zwischen Mann und Frau: Nach einem Rückgang der Scheidungsraten bis in die frühen sechziger Jahre (1960 gab es 1,14 Scheidungen auf 1000 Einwohner) stieg dieser Wert seither deutlich (besonders in den letzten Jahren) an und betrug 1979 bereits 1,7.
Dementsprechend steigen auch die Zahlen der Kinder, die von Scheidungen betroffen sind: 1966 waren es 7300 Kinder, 1979 waren es doppelt so viele, nämlich 14.960. Das bedeutet, daß etwa jedes zehnte Kind im vergangenen Jahrzehnt Scheidungswaise geworden ist.
Weiters läßt sich die Instabilität der Partnerbeziehungen an den sinkenden Heiratsraten ablesen: Junge Leute gehen heute immer häufiger gar keine gesetzlich sanktionierten, dauerhaften Beziehungen ein: 1964 wurden in Österreich noch 8 Ehen je 1000 Einwohnern geschlossen. 1979 waren es nur mehr 6, wobei der Anteil der Erstehen außerdem noch rückläufig ist.
Parallel zu dieser Entwicklung ist ein deutlicher Anstieg bei den unehelichen Geburten zu beobachten: niedrigen Werten von ungefähr 11% der Geburten in den sechziger Jahren stehen weitaus höhere Werte in jüngster Vergangenheit gegenüber (1979: 16,5%).
Damit wird eine weitere Entwicklung sichtbar: Ein wachsender Anteil der Familien hat durch die Instabilität der Partnerbeziehungen nicht einmal mehr die Minimalgröße der Standard-Kernfamilie (zwei Erwachsene - ein bis zwei Kinder).
Diese Entwicklungen lassen auch Schlüsse auf Einstellungen und Werte zu: Die deutlich sinkende Gebärfreudigkeit bringt zweifellos eine wach
sende Kinderfeindlichkeit zum Ausdruck. Dies zeigen auch die unerträglich hohen Ziffern der Abtreibungen.
Die Schätzungen einer vor wenigen Jahren durchgeführten Untersuchung kommen zu dem Ergebnis, daß die Zahl der Abtreibungen in der Größenordnung der Zahl der Geburten liegt. Das bedeutet, daß jedes zweite gezeugte Kind in Österreich vorzeitig den Tod findet.
Sieht man von den moralischen Aspekten der Abtreibungsfrage ab, so bringen diese Zahlen zum Ausdruck, daß die Art, wie wir uns heute das Leben verfügbar machen, unser Überleben gefährdet: Bei Beibehaltung des bisherigen Trends wird es langfristig zu einer deutlichen Schrumpfung und zu einer drastischen Überalterung der Be
völkerung kommen. Die Förderung einer kinderfreundlichen Grundhaltung in der Bevölkerung ist daher das Gebot der Stunde.
Weiters kommt im Heirats- und Scheidungsverhalten eine zunehmende Instabilität der zwischenmenschlichen Beziehungen zum Ausdruck. Der Mensch unserer Tage ist immer weniger imstande, dauerhafte Beziehungen aufrechtzuerhalten.
Diese Entwicklung wird einerseits durch Gesetzesänderungen begünstigt, sie spiegelt aber auch die wachsende Anerkennung der Scheidung als angemessenes Mittel, Probleme zu lösen,wi- der. Ebenso akzeptabel scheint das Zusammenleben von Mann und Frau ohne Eheschließung zu werden. Die Möglichkeit auseinanderzugehen, wird von vornherein in Betracht gezogen. Dadurch kommt es immer häufiger zu einer Abfolge von eheähnlichen Partnerschaften mit wechselnden Personen.
Daß aber jeder Partnerwechsel eine schwere psychische Belastung für die Beteiligten darstellt, zeigen einschlä
gige Untersuchungen der Selbstmordforscher ebenso wie die Todesursachenstatistik: Geschiedene haben eine weitaus höhere Sterblichkeit als Verheiratete. So zeigen etwa die Statistiken amerikanischer Versicherungen, daß 30jährige Geschiedene im folgenden Lebensjahrzehnt eine um 250% höhere Sterblichkeit haben als Verheiratete. (Starke Raucher haben im Vergleich dazu nur eine Übersterblichkeit von 125%.)
Somit ist der Trend zur wachsenden Instabilität der zwischenmenschlichen Beziehungen - ganz abgesehen von den schädlichen Auswirkungen für die betroffenen Kinder - also für alle Beteiligten äußerst nachteilig.
Auch hier gilt es, unsere Werthaltungen in Frage zu stellen und von dem gegenwärtig so stark betonten Konzept von Freiheit und ich-bezogener Selbstverwirklichung um jeden Preis wegzukommen. Eine stärkere Hinwendung zum Mitmenschen tut not!
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