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Prager Anti-Baby-Boom

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Optimismus und Pessimismus eines Volkes spiegelt sich nicht zuletzt — lassen wir einmal Wohlstandserscheinungen beiseite — in den Geburtenzahlen wider. Die Geburtenzahlen der Tschechoslowakei seit Kriegsende bis zum vergangenen Jahr sprechen eine deutliche und wenig erfreuliche Sprache, wobei auch das Jahr des „Prager Frühlings“ keine Ausnahme bildet. 1959, also vor genau zehn Jahren, aber auch 14 Jahre nach Kriegsende und 11 Jahre nach der kommunistischen Machtergreifung des Jahres 1948, hatten die Geburtenzahlen einen Tiefstand erreicht, den man nicht mehr zu unterbieten hoffte. Mit 216.973 Geburten lag man um fast 150.000 Geburten unter den der zwanziger Jahre, aber auch noch um rund 70.000 Geburten unter den der dreißiger Jahre, als die Wirtschaftskrise ihren Höhepunkt erreicht hatte. Tatsächlich keimte wieder ein wenig die Hoffnung auf; in einem bescheidenen Auf und Ab bildete das Jahr 1964 mit 241.300 Geburten einen Höhepunkt, dann aber ging es wieder bergab. 1967, also im letzten Jahr der Novotny-Zeit, sank man ganz knapp unter das 1959-Er?eb-nis, und im Vorjahr, im Jahre 1968, wurde, sicher ausgelöst durch eine Reihe von Maßnahmen, mit 212.000 Geburten die niedrigste, jemals erreichte Geburtenzahl sichtbar.

Wesentlichen Anteil an dieser Entwicklung hatte natürlich die Schwangerschaftsunterbrechung, die seit dem Jahre 1957 gesetzlich toleriert war; bereits 1958, also ein Jahr nach dem Erlaß dieses Gesetzes, gab es bei 235.000 Geburten 61.000 „offizielle“ Schwangerschaftsunterbrechungen, eine Zahl, die 1960 auf 88.000 stieg und bereits 1961 die Hunderttausendgrenze überschritt. Nach vorübergehender Besserung wurden 1966 115.000 Schwangerschaftsunterbrechungen gezählt, dann ging es, parallel zur Einführung der Pille, leicht bergab, aber auch in den nachfolgenden Jahren pendelte sich die Zahl der Schwangerschaftsunterbrechungen zwischen 75.000 und 80.000 jährlich ein. Dies geschah alles trotz einer herben Kritik von Seiten der Ärzte, die sich als simple Erfüllungsgehilfen des Gesetzes bezeichneten, die etwas zu unterschreiben hätten, was sie selbst mißbilligten; die aufgewandte Zeit wäre viel besser für eine vernünftige Eheberatung angewandt, denn kaum eine Frau lasse sich von ihrer Absicht abbringen. Aber die zu geringe Geburtenzahl und die zu hohe Zahl von Abtreibungen bildeten keineswegs die einzigen sorgenvollen Punkte auf dem Familiensektor; man erklärt ganz offen, daß es zu wenig Eheschließungen und zu viel Ehescheidungen gerade bei jungen Ehepaaren gebe. Wenn es auch im Ostblock zum Teil schlimmer als in der Tschechoslowakei aussieht und die Tschechoslowakei, was Ehescheidungen anbelangt, im Mittelfeld liegt, so sind 1,12 Ehescheidungen je tausend Einwohner keine Kleinigkeit, auch wenn hinzugefügt werden muß, daß im Verlauf der letzten Jahre eine leichte Besserung eingetreten ist. 1958 etwa gab es 1,18, dann 1959 1,15 Ehescheidungen je tausend Bewohner.

Besonders schwerwiegend erscheint die Tatsache, daß es sich bei den 15.000 bis 16.000 geschiedenen Ehen je 100.000 Eheschließungen um junge Jahrgänge handelt und daß nicht zuletzt hier die Ursache der geringen Geburtenfreudigkeit liegt.

Die zu geringe Zahl von Eheschließungen will man zwar schon längst wieder mittels Eheanbahnungsinstituten bekämpfen, die unmittelbar nach der kommunistischen Machtübernahme des Jahres 1948 verboten worden waren; nunmehr forciert man diese Angelegenheit und ist bereits zur Eheanbahnung mittels Computer übergegangen. Im ersten Jahr, 1968, haben sich 5165 Männer und 8827 Frauen an den Eheanbahnungs-Computer gewandt, mit dessen Hilfe es gelungen ist, 3466 Bekanntschaften zu vermitteln. Allerdings nur fünf mündeten schließlich in eine Ehe. So nebenbei wurde bei dieser Computer-Ehevermittlung erklärt, daß dabei die religiöse Frage keine besondere Bedeutung gehabt hätte; nur 7 Prozent der Männer und Frauen hätten konkret angegeben, welcher Religionsgemeinschaft der Partner angehören soll. Schon bald hatte man allerdings auch erkannt, daß die Schleuse, die man durch die legalisierte Schwangerschaftsunterbrechung geöffnet hatte, nicht so rasch wieder zu schließen sein werde. Man war deshalb bemüht, der katastrophalen Lage durch positive Maßnahmen entgegenzutreten. So schlug etwa der Sekretär der staatlichen Planungskommission vor, durch erhöhte Ehestandsdarlehen und durch erhöhtes Kindergeld sowie durch eine Verlängerung des Schwangerschaftsurlaubes die Zahl der Abtreibungen abzubremsen. Stereotyp gaben übrigens die Frauen als Argument an, warum sie eine Schwangerschaftsunterbrechung wünschen: die untragbare Doppelbelastung durch Beruf und Arbeit, aber auch die fehlende oder zu kleine Wohnung. Die Frauenarbeit ist in letzter Zeit eher zurückgegangen und auch nicht mehr so drückend wie einst; auf dem Sektor „Wohnungen“ aber kann man sich keinen Illusionen hingeben. M*n wird eher länger als bisher warten müssen, denn von allen Wirtschaftsplanungen hat die des Wohnungsbaues in letzter Zeit die bescheidensten Früchte getragen.

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