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Volk im Kessel

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In der malerischen Landschaft, auf die der ebenmäßige Schneekegel des Fuji-jama herabblickt, in dem Hügel- und Bergland, das sich zu Füßen des Bergriesen breitet, drängt sich, in für uns fast unvorstellbarer Enge, ein Volk, dessen soziologische Not erschreckend ist.

Lebten im heutigen Kernland Japan im Jahre 1945 rund 72,4 Millionen Menschen, so waren es 1947 schon 76,16 Millionen, 1949 rund 82 Millionen und zum Jahresende 1950 schätzungsweise bereits 64 Millionen. In diesen Ziffern sind wohl 4 Millionen Rückwanderer aus den früheren überseeischen Außenbesitzungen des Landes mit enthalten, aber auch die natürliche Vermehrung des japanischen Volkes allein ist ungemein hoch: im Jahre 1948 zählte man 34,06 Geburten je 1000 Einwohner, denen — dank umfassender sanitärer und medizinischer Bemühungen der Alliierten bloß 11,96 Todesfälle pro Tausend gegenüberstanden. Von 1946 bis 1948 gingen zum Beispiel die Todesfälle durch Typhus auf weniger als ein Viertel zurück. Das durchschnittliche Lebensalter der Japaner ist seit 1941 bei Männern um drei; bei Frauen sogar um acht Jahre gestiegen. Der Uberschuß der Wiegen über die Särge beträgt so im Jahre etwa 1,6 Millionen. Bei gleichbleibenden Umständen rechnet man für das Jahr 1970 mit einer Bevölkerungszahl von mindestens 100 Millionen.

Diese Entwicklung stößt an eine natürliche Schranke. Denn diese Millionen und Abermillionen drängen sich auf einem Gebiet zusammen, das mit 382.000 Quadratkilometern nur wenig mehr als zwei Drittel der Oberfläche Frankreichs einnimmt. Aber auch von diesem beengten Raum sind nur etwa 15 Prozent landwirtschaftlich nutzbar. Dazu kommt eine soziologisch ungünstige Bodenverteilung. Fast die Hälfte der Kleinbauern bewirtschaftete noch vor kurzem weniger als ein Hektar, ein Viertel von ihnen Grundstücke von einem halben bis einem Hektar. Nur ein Drittel der Ackerbauer war Grundeigentümer, die übrigen Pächter, in vielfach bedrückter Lage, so daß die Landflucht beträchtlich war. Die unter der Besatzungsmacht durchgeführte Bodenreform, die Gewährung landwirtschaftlicher Kredite hat einen großen Teil dieser Pächter zu Grundeigentümern gemacht. Aber alle diese Reformen, so notwendig und nützlich sie waren, vermögen das Problem nicht zu lösen, daß das japanische Volk auf seinen Stamminseln allein, auf die es heute zur Gewinnung seines Unterhalts beschränkt ist, nicht die nötige Lebensbasis findet. Die USA haben in Erkenntnis dieser Lage nicht nur auf Reparationen verzichtet, sondern auch Hilfeleistungen aller Art im Werte von 1,5 Milliarden Dollar gewährt. Die japanische Industrie und ihre Exporte sind nun wohl in beträchtlicher Erholung begriffen, aber der japanische Boden birgt weder Erze noch Kohle noch öl in nennenswertem Ausmaß — die drei Voraussetzungen moderner, konkurrenzfähiger Erzeugung. Um nur den Lebensstandard von 1930/34 aufrechtzuerhalten, muß Japan, für seinen eigenen Bedarf allein, ein Fünftel seiner Nahrung, zwei Fünftel des Holzes, neun Zehntel des Petroleums, fast die Hälfte des Bedarfes an Phosphaten, ein Viertel des Kali-, zwei Drittel des Eisen- und vier Fünftel des Bleibedarfes einführen. Da auch die Handelsflotte zum großen Teil durch Kriegsfolgen verlorengegangen ist, sind Auftriebstendenzen natürliche Grenzen gezogen. Die Folgen sind: Unterkonsum der Bevölkerung, Arbeitslosigkeit und Inflation.

Es ist zu beklagen, daß die für die japanische Innen- und Außenpolitik maßgebenden alliierten Stellen in dieser Not keinen anderen Ausweg sahen, als eine radikale Einschränkung der Geburten. Aber so rücksichtslos dieser Plan betrieben wurde — die „Furche“ hat über die Methoden in Briefen aus Japan berichtet —, so erfuhr er doch bei dem landwirtschaftlichen Bevölkerungsteil, der etwa die Hälfte der Gesamtbevölkerung ausmacht, ungeachtet dessen sozialer Notlage, entschiedene Ablehnung. Eine Umfrage der Zeitung „Asahi“ ergab sogar, daß nur 9 Prozent der Verheirateten an einer künstlichen Einschränkung der Geburten teilnahmen. Welche Sumpfblüten aber allmählich das dem japanischen Volk gegen seinen Willen aufgenötigte System der „Geburtenregelung“ zu treiben beginnt, erweist in erschütternder Weise ein Brief an die „Furche“ von einem Mitarbeiter in Japan:

„Der frühere Präsident und jetzige Berater der Zeitung ,Nihon Keizai' fordert eine besondere Besteuerung der kinderreichen Familien. Er begründet seine Forderung damit, daß —obwohl das japanische Volk nun Bescheid über die dringende Notwendigkeit einer Geburtenkontrolle wiese — tatsächlich doch kein Rückgang der Geburten festzustellen sei. Die Zahl der Volksschüler betrage zum Beispiel in Tokio gegenwärtig 650.000. und werde bald auf 800.000 steigen,- die größte Zahl, die jemals dn der Vergangenheit erreicht worden sei. Deswegen könnten auch keine geeigneten Erziehungsmöglichkeiten geschaffen werden. Die ungenügende Erziehung des Volkes wind aber in Zukunft zu einer Brutstätte des Kommunismus.

Es müsse 6omit etwas gegen die .schreckliche, rattengleiche' Vermehrung des japanischen Volkes getan werden. Das jetzige Gesetz muß zur Erleichterung der Abtreibungen verbessert werden. Uberall im ganzen Lande müssen Geburtenkontrollstellen errichtet werden. Man 6oll darüber nicht bloß Vorträge halten und Beratungsstellen für Mädchen, die in Schwierigkeiten geraten sind, oder für Familien, die ihren Zuwachs beschränken wollen, einrichten, sondern man soll sofort, ohne viel unnütze Fragen, die Abtreibung an öffentlichen Kliniken vornehmen.

Vor allem 6ollen kinderreiche Familien mit besonderen Steuern belegt werden. Familien mit zwei Knaben oder drei Mädchen oder ein Paar von Knaben mit einem Mädchen zusammen sollen ausgenommen werden. Aber alle, die mehr als drei Kinder hätten, sollen für das vierte Kind 10.000 Yen (etwa 26 USA-Dollar), für das fünfte 30.000 Yen, für das sechste 100.000 Yen und für das siebente 500.000 Yen zahlen. Diese besondere Taxe soll nicht als Einkommensteuer, sondern als Strafe betrachtet werden...“

Wo liegt in diesem wahrhaft furchtbaren Dilemma die Abhilfe? Welches Mittel vermag das japanische Volk aus seinem erdrückenden Mangel an Unterhaltsmöglichkeiten zu retten, ohne daß es einen Pfad beschreiten müßte, der allen sittlichen Gesetzen Hohn spricht? Die Antwort auf diese Frage geben die weiten, noch unbewohnten und doch dem menschlichen Arbeitsfleiße dienstbar zu machenden Landstriche Südamerikas und Australiens.

Der fünfte Erdteil, an Umfang Europa nur wenig nachstehend, wird bloß von acht Millionen Menschen bewohnt. Es ist gewiß richtig, daß seine eigenartige Bodenkonfiguration und die völlige Regenarmut seines Inneren eine Bevölkerungsdichte, wie sie in anderen Erdteilen erreicht wurde oder erreichbar ist, ausschließt. Der frühere australische Ein-wanderungs- und Informationsminister Artur A. Calwell, der eine lebhafte Propaganda zur Auffüllung des „leeren Kontinents“ entfaltet hatte, bezifferte das erreichbare Maximum uer australischen Bevölkerungsziffer mit etwa 1 00 Million e n, meinte aber, es sei vernünftig, sich vorläufig bloß 20 Millionen zum Ziele zu setzen.

Man rechnet mit 100.000 britischen Immigranten pro Jahr. Die australische Regierung hat sich zur Beschleunigung der Gewinnung von Ansiedlern an die IRO gewendet, die über einen stattlichen Schiffspark verfügt und aus den deutschen und österreichischen Flüchtlingslagern in den nächsten Jahren jährlich 60.000 Flüchtlingen in den fünften Erdteil zur Gründung einer neuen Heimat verbringen will. Aber selbst die insgesamt für die kommenden Jahre erhoffte Einwanderungsquote von 200.000 Köpfen ist, gemessen an den Weiten des zu besiedelnden Kontinents, nur ein Tropfen auf dem heißen Stein. Doch Australien hält daran fest, daß sein Erdteil ausschließlich dem weißen Manne vorbehalten bleiben müsse. Das australische Mitglied der Fernostkommission, MacMahon Ball, hat in einem aufsehenerregenden Buch „Japan — Feind oder Verbündeter?“ allen Einwänden Australiens vor dem andrängenden Menschenüberschuß Ostasiens Ausdruck gegeben. Aber zwischen Calwells Ruf: „Australien muß bevölkert werden — oder untergehen!“ und seiner Forderung: „Australien wird weiter weiß bleiben — für ewig und kompromißlos“ klafft der Widerspruch der weltpolitischen Tatsachen. Der Tatsache vor allem, daß ein solches Vakuum und jene drük-kende Uberfüllung Spannungen enthalten, die zu allen Weltgefahren neue anhäufen.

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