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Altes Volk auf neuen Straßen

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In Japan ist nun Frieden, und die amerikanische Besatzung, die bisher in allen öffentlichen Belangen mitzureden hatte, ist jetzt nur mehr Gast im Lande und zieht sich auf vertraglich zugebilligte Stützpunkte zurück. Am 8. September 1951, fast genau sechs Jahre nach seiner Kapitulation, hat Japan in San Franzisko seinen Friedensvertrag mit den USA und 48 anderen Staaten, gegen die es Krieg geführt hatte, unterzeichnet. Der Vertrag wurde zwar von seinen großen Nachbarn, der Sowjetunion und China, sowie einigen anderen Staaten nicht anerkannt, aber in den Augen der Westmächte und ihrer Verbündeten ist Japan wieder eine politisch und militärisch gleichberechtigte Nation geworden. Jedenfalls beginnt für Japan damit ein neuer Abschnitt seiner Geschichte. Die übrige Welt aber wird eich fragen, wieweit sich das Inselland in den letzten Jahren geändert hat und was von ihm in Zukunft zu erv/arten ist.

Kaum ein Staat hat sich während der letzten hundert Jahre so stark gewandelt wie gerade Japan. Bis 1853, bis Amerika es zwang, den fremden Mächten Eingang in einige seiner Häfen zu gewähren, hatte sich das Land gegen außen abgesperrt. Damals war es noch ein Lehensstaat, vergleichbar den Staaten des europäischen Mittelalters. Dann erst begann sich das Feudalsystem, das in der Stunde der Not versagt hatte, aufzulösen. 1868 verzichtete der Adel auf seine Privilegien und Ländereien. Vom Sdiogun (Reichsmarschall), der bisher mit einigen hundert Daimjos (Lehensherren) und den Samurais (Rittern) das Land beherrscht hatte, ging nun die Macht auf den Tenno (Kaiser) über. Beeindruckt von der Überlegenheit des Westens wurden Recht, Staat, Verwaltung und Wehrmacht reformiert und Wirtschaft und Verkehr modernisiert. Die überraschend glücklichen Kriege gegen die gewaltigen Nachbarreiche China (1894/95) und Rußland (1904/05) brachten Kolonien und damit die Grundlage weiteren Aufstieges. Die Bevölkerung, die bisher durch Hungersnöte, Seuchen und Geburtenbeschränkung 30 Millionen nie überschritten hatte, vermehrte sich schon bis 1925 auf das Doppelte und nahm weiterhin ständig zu. Ihr Uberschuß strömte in Fabriken, die über- . all rasch emporwuchsen. Für sie suchte Japan wieder neue Rohstoffgebiete und Märkte. Wie die junge Groß- und Kolonialmacht sich immer mehr ausbreitete, dann sogar mit bewaffneter Hand nach der Führung im „Großostasiatischen Raume“ griff, dabei zuerst blendende Erfolge erzielte, schließlich aber unterlag und zusammenbrach, haben wir selbst miterlebt …

85 Millionen auf vier Inseln

Als Japan nach fast vier Jahren Kampf gegen die Alliierten am 2. September 1945 seine bedingungslose Kapitulation Unterzeichnete, besiegelte es damit die erste große Niederlage und sah auf seinem Boden die erste fremde Besatzung in seiner langen und ereignisreichen Geschichte. Alle Eroberungen der letzten Jahre und alle Erwerbungen der letzten Jahrzehnte waren verloren: Formosa und die Pescadoreninseln kamen an Tschiang- kaischek, Südsachalin und die Kurilen an die Sowjetunion, die Rjukju-, Bonin- und Südseeinseln verwalteten die USA, und diese wie die UdSSR besetzten Korea, das ein unabhängiger Staat werden sollte. Mit den Kolonien, besetzten Gebieten und Einflußbereichen hat der Besiegte nicht nur Siedlungsland für seinen Menschenreichtum, sondern auch unentbehrliche Rohstoffcpiellen und Märkte für seine Industriewaren eingebüßt. Was Japan behalten hat, ist kaum viel mehr als seine vier großen Inseln. Sie sind zwar 368.000 Quadratkilometer, das tet viereinhalbmal so groß wie Österreich, aber das Land ist noch gebirgiger als unsere Heimat, und auf ihm drängten sich 6chon im Jahre 1945 mehr als zehnmal so viel Menschen zusammen wie bei uns. Unterdessen haben die vielen Soldaten und japanischen Siedler, die aus den' Kolonien und besetzten Ländern repatriiert wurden, sowie die natürliche Vermehrung die Bevölkerungsziffer bereit auf über 85 Millionen anwachsen lassen — und dieses Wachstum geht noch ständig weiter.

Am schlimmsten war zunächst die Wohnungsnot: Hiroshima und Nagasaki waren zum großen Teil durch Atom-_- bomben zerstört, Tokio mehr als zur Hälfte, und in vielen Städten fehlten ganze Straßenzüge, Häuserblocks und Viertel. Die solid und modern nach westlichem Muster aufgeführten Hochbauten der Banken, großen Firmen und Behör-- den standen oft ausgebrannt und in Ruinen. Von den leichten japanischen Wohnhäusern, die aus Holz gezimmert sind und Fenster aus Papier haben, waren über vier Millionen eingeäschert. Aber gerade die leichte Bauweisö und dazu die seit alters übliche Normung der Zimmer- größe ermöglichten es jedermann, selbst mit ans Werk zu gehen und das fehlende Heim rasch wieder zu schaffen.

Zu allem Unglück waren auch viele Arbeitsstätten und besonders viele große Fabriken vernichtet. Die Rüstungs- und Schwerindustrie wurde, soweit sie überhaupt noch bestand, aufgelöst oder stillgelegt; nur ein Teil konnte auf die Erzeugung von Gütern für die täglichen Bedürfnisse des Volkes umgestellt werden. Die Textilfabriken, namentlich die Seidenspinnereien und -Webereien, die vor dem Kriege in der Weltwirtschaft führend gewesen waren, hatten die meisten Maschinen eingebüßt, und dies nicht allein durch Luftangriffe,' vieles Gerät war auch verschrottet worden, run den Bedarf an Metall zu decken. Auch Rohstoffe mangelten. Weite Haine von Maulbeerbäumen, deren Blätter die Seidenraupe nähren, waren geschlagen worden, um Reis- und anderen Feldern Platz zu machen. Schaf- und Baumwolle kamen seit jeher aus dem Ausland, Schafwolle vorzugsweise aus Australien und Baumwolle namentlich aus den USA. Die Amerikaner mußten daher reichlich importieren, besonders Rohmaterialien und N ahrungsmittel.

Viele Städter waren aufs Land hinausgezogen, um nicht zu hungern und bei Verwandten Arbeit zu finden; aber der Boden Japans ist schon seit langem zu Isrtspp ond außerdem überanstrengt, so daß auch die Landwirtschaft auf die Dauer keine Lösung für die allgemeine Not bieten konnte.

Alle diese furchtbaren Erschütterungen der vergangenen Jahre konnten am Japaner nicht spurlos vorübergehen. Im ersten Augenblick stand er betäubt von dem schweren Schicksalsschlag, der wie ein furchtbares Naturereignis über ihn hereingebrochen war. Aber sein Lebenswille blieb ungebeugt. Wie nach dem großen Erdbeben, das 1923 Tokio und Jokohama verheerte, die beiden Städte gleich darangingen, alles rasch und womöglich besser wiederaufzubauen, so schritt jetzt das ganze Volk unverzüglich und ohne erst lang zu fragen an den Wiederaufbau.

Zum Glück erhielt Japan nur eine Besatzungsmacht und bewies sein neuer Herr, Mac Arthur, bestärkt von seinem psychologischen Berater, E. M. Zacharias, so viel Verständnis für das japanische Wesen, daß er bei der bedingungslosen Übergabe doch eine Bedingung“ gelten ließ: er setzte den Tenno, den Kaiser, obersten Priester und Vater der japanischen Volksfamilie, nicht ab und brachte ihn erst recht nicht als Hauptkriegsverbrecher vor das Tribunal. So ersparte er dem japanischen Volk und seinem eigenen unvorstellbares Unheil. Und so blieb auch dem Japaner in einer Welt, die rings um ihn zusammsngestürzt war und in Trümmern lag, sein letzter und feste ster Halt: der Kaiser. Der Schintoismus gilt zwar nicht mehr als Staatsreligion und der Tenno wird nicht mehr als Sproß der Sonnengöttin göttlich verehrt, aber sein Ansehen hat sich kaum verändert. Für das Volk wurde aus einem Gott, der in der Ferne waltet, ein Gott, der unter Menschen wandelt. Er hat den Krieg beendet und damit sein Volk gerettet und er demokratisiert und modernisiert das Land, um es in eine bessere Zukunft zu führen. Und wenn ein schlichter Japaner gefragt wird, .ob er die Demokratie für gut halte, so mag er antworten: „Gewiß, der Tenno hat es ja selbst gesagt.“

In Japan gab es keine Partei und daher auch keine große politische Säuberung. Die sieben Hauptschuldigen im Kriegsverbredierprozeß — Ministerpräsident Tojo, Außenminister Hirota, das Mitglied des Obersten Kriegsrates Matsai, der Oberkommandierende in Burma, Doi- hara, der Befehlshaber der 7. Armee in Singapur, Kimura, und zwei weitere — suchten nicht die Verantwortung auf den Kaiser oder andere abzuwälzen, sondern nahmen alle Schuld auf sich. Sie bestiegen das Schafott mit einem Heil auf den Tenno, und die Japaner gedachten ihrer durch eine Minute des Schweigens. Sie wurden am 22. Dezember 1948 hingerichtet, nach Mitternacht, als die Sonne den tiefsten Stand des Jahres hatte, um das Empfinden des symbolliebenden Landes der aufgehenden Sonne am wenigsten zu verletzen.

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