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Hiroshima

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Eine Reportage über Hiroshima - knapp 13 Jahre nach dem Abwurf der Atombombe.

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Eine Reportage über Hiroshima - knapp 13 Jahre nach dem Abwurf der Atombombe.

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„Vermutlich werden in diesem Jahr wieder wie im Vorjahre rund dreißig Personen an der 'Atomkrankheit' sterben, und diese Zahl ist eher zu hoch als zu tief gegriffen“, sagte mir Doktor Harada, der Vorsitzende einer japanischen Aerztevereinigung in Hiroshima, die sich besonders mit dem Studium der durch das Bombardement verursachten Gesundheitsschädigungen befaßt. „Wir erkennen immer mehr, daß die Strahlung letzten Endes auch den letalen Ausgang von 'gewöhnlichen' Krankheiten beschleunigt. Alle Personen, die sich in einem Umkreis von weniger als zwei Kilometer vom Zentrum der Explosion befanden, haben eine Art 'Injektion' erhalten, die die natürlichen Abwehrkräfte ihres Körpers lebenslänglich mindert. Der Prozentsatz der Todesfälle unter den sogenannten 'Ueberlebenden' in Hiroshima ist — auch wenn sie glücklich genug waren, ohne Brandwunden und Bluterkrankungen davonzukommen — um ein Vielfaches höher als der der anderen Bürger von Hiroshima, die erst nach der Katastrophe herkamen.“

Die harten Herzen

Sowohl die „Abteilung für Atomkrankheiten“ im Rot-Kreuz-Spital als auch die „Vereinigung der Aerzte zum Studium und zur Behandlung von Atomkrankheiten“ sind erst Gründungen der allerletzten Jahre. Von 1945 bis 1955 wurde zwar in der ganzen Welt den Opfern von Hiroshima das wortreiche Bedauern einer vor ihren eigenen Möglichkeiten erschreckten Menschheit ausgedrückt, aber sonst geschah für die Ueberlebenden dieser ersten Atomkatastrophe so gut wie nichts. Von den 90.000 Personen, die den „Pikadon“ (Blitz und Donner — ortsüblicher Ausdruck für die Atomkatastrophe) überstanden hatten, leiden mindestens 6000 bis 10.000, die genaue Zahl steht bis heute noch nicht fest, an akuten Folgeerscheinungen des Bombardements. Sie erhielten minimale oder gar keine Renten. Ihre Arbeitsfähigkeit aber ist stark herabgemindert oder gleich null. Personen, die „nur“ durch Brandwunden und „Keloids“ (wulstige Narben als Folgen der Verbrennungen) entstellt worden waren, haben es schwer, eine Beschäftigung zu finden, denn niemand wollte sich durch die entstellten Gesichter an „gembaku“ (wörtlich: Stätte des Leidens — Ortsbezeichnung für den „Tag des Bombardements“) erinnern lassen. Ja, sogar der Zutritt zu öffentlichen Bädern wurde den „Narbigen“ mehrfach versagt, da andere Benutzer der Badeanstalten der irrigen Auffassung waren, die „Keloids“ seien ansteckend.

„Atom-Parias“

So entstand inmitten der aufblühenden „Friedensstadt Hiroshima“ eine Klasse von „Atom-Parias“, die ihre Existenz in elenden Slums und Holzbaracken fristen und nicht genug zum Leben haben. Nur diejenigen Atomgeschädigten, die entweder aus eigenen Mitteln oder mit Hilfe von Verwandten den Preis für kostspielige Behandlungen aufbrachten, erhielten bisher ärztliche Hilfe. Eine Ausnahme bildete Herr Kikkawa. Ihm ging es besser, seit der Reporter einer großen Illustrierten seinen verbrannten Rücken photographierte und ihm eine kleine Summe für dieses „Modellstehen“ zahlte. So kam der Mann auf die Idee, aus seinen Brandwunden Kapital zu schlagen. Touristen aus dem Ausland und Neugierige aus anderen japanischen Städten durften Kikkawas Rücken für eine festgesetzte Summe knipsen. Mit einem kleinen Souvenirstand (Bombentrümmer, Photos, Postkarten und für bevorzugte Kunden Haarlocken von Bombenopfern), den der inzwischen zum „Atomopfer Nr. l“ avancierte Kikkawa errichtete, machte er dann aber so gute Geschäfte, daß sich ein Konkurrent gegenüber von Kikkawas Bude einnistete.

Dieser Rivale kam aus Osaka, war also kein „authentisches Opfer“ und wurde daher als „Profitmacher“ angegriffen. Es entwickelte sich zwischen dem „Atomopfer Nr. 1“ und seinem Geschäftsrivalen ein heftiger Plakatkrieg, in dem jeder den anderen der Ausbeutung des Mitleids zieh. Zur Zeit sind diese Anklageplakate noch immer zu sehen, aber man hat sich inzwischen stillschweigend miteinander abgefunden. Das „Geschäft“ wirft genug ab für beide. (Täglich halten hier 130 bis 150 Sightseeing-Busse.)

Die ABCC-Klinik

Nach allgemeiner Ansicht hat der Abwurf der Atombombe durch die Amerikaner unter den Ueberlebenden erstaunlich wenig Haßgefühle gegen die Vereinigten Staaten hervorgerufen. Der Einsatz der Kernwaffe wurde eben als Kriegshandlung angesehen. Kritisiert wurde höchstens das ungenaue Zielen der Bombermannschaft, die ihre Ladung mitten ins zivile Stadtgebiet hineinwarf, statt direkt auf die ausgedehnten Militäranlagen von Hiroshima. Weit mehr als die Bombe selbst hat die von der amerikanischen Atomenergiekommission eingerichtete „Atomic Bomb Casualty Commission“ (ABCC) zur Ausbreitung des Antiamerikanismus beigetragen.

Soziologen oder Sozialpsychologen, die studieren wollen, wie Reibungen und Spannungen zwischen Angehörigen verschiedener Nationen entstehen, würden hier überreichlich Material finden. Denn statt, wie man hoffte, die Beziehungen zwischen Amerikanern und Japanern zu verbessern, hat die ABCC das Verhältnis in gefährlicher Weise vergiftet und bei der Bevölkerung die Auffassung gefestigt, die Amerikaner seien „unmenschlich“.

Im höchsten Grade ungeschickt war schon die Wahl des Platzes für den Bau des ABCC-Spitals. Man suchte sich dafür den grünen Hügel des Hijiyama-Parks aus, der jahrzehntelang als Soldatenfriedhof benutzt worden war. Daß nun gerade auf diesem, in einem Lande der Ahnenverehrung als geheiligt angesehenen Boden ein Laboratorium und Bürobaracken der Sieger errichtet wurden, erweckte verständliche Verärgerung. Weit mehr Verstimmung schuf noch die den Bürgern von Hiroshima unverständliche Vorschrift dieser mit amerikanischen Geldern erbauten und vorwiegend von Amerikanern (wenn auch mit japanischer Hilfe) geleiteten Klinik, daß dort nämlich nur Diagnosen gestellt, den Patienten aber keinerlei Behandlung zuteil wurde. Die außerordentlich gewissenhaft Untersuchten wurden, nachdem sie, sich einen oder mehrere Tage lang anstrengenden und häufig schmerzhaften Tests unterworfen hatten, im Jeep wieder in ihre Elendsbaracken zurückgebracht, ohne daß man auch nur das Geringste zur Heilung ihrer Leiden unternommen hätte!

Die amerikanischen Aerzte mußten diese ihnen selbst höchst unhuman erscheinende Zurückhaltung üben, weil vor dem Bau der ABCC-Klinik zwischen den Besatzungsstellen und den japanischen Behörden vereinbart worden war, daß die Amerikaner nur diagnostisch, nicht behandelnd in Hiroshima wirken durften. Dies geschah damals unter der stillschweigenden — und wie sich herausstellte falschen — Voraussetzung, daß die japanischen Aerzte der Stadt dann auf Grund dieser Ergebnisse die in der Klinik diagnostizierten „Fälle“ behandeln würden. Dies war sogar ausdrücklich von den ortsansässigen Doktoren verlangt worden, da sie keine „ausländische Konkurrenz“ dulden wollten. Aber diese Tatsachen waren der Bevölkerung von Hiroshima kaum bekannt. Sie erlebten nur, daß man ihre Mitbürger als „Versuchskaninchen“ benutzte, die Resultate notierte und mit Hilfe von großen elektronischen Rechenmaschinen auswertete, während die Opfer dann ohne weitere Fürsorge dahinsiechten.

Jedoch haben andere Amerikaner den Bürgern von Hiroshima durch persönliche Hilfsbereitschaft zu zeigen versucht, daß sie den Einsatz der Atombombe gegen Hiroshima bereuen und alles tun wollen, um das durch die Strategen ihres Landes angerichtete Unheil wiedergutzumachen. Der Quäker Floyd Schmoe, Professor der Botanik aus Seattle, kam nach Hiroshima, um mit eigenen Händen, unterstützt von einigen amerikanischen und japanischen Freunden, in der an Wohnungsnot leidenden Stadt Häuser für die Obdachlosen zu bauen. Die in Florida geborene methodistische Fürsorgerin Mary Mac-Millan arbeitet seit 1947 für die Waisen und Witwen des 6. August. Der Herausgeber der „Saturday Review of Literature“ in New York, Norman Cousins, hat seit Jahren allen seinen beträchtlichen publizistischen Einfluß eingesetzt, um amerikanische Patenschaften für beim Bombardement elternlos gewordene Kinder zu schaffen und hat selbst zwei Vollwaisen adoptiert. Von mindestens einem der bei der ABCC angestellten amerikanischen Aerzte ist bekannt, daß er es riskierte, „illegal“ den von ihm untersuchten Patienten zu helfen.

Film als Gewissensappell

Die Gleichgültigkeit der japanischen Behörden gegenüber den überlebenden Opfern von Hiroshima und Nagasaki wurde erstmals erschüttert, als der Regisseur Fumio Kamei vor zwei Jahren einen Dokumentarfilm über das Schicksal der „Atomparias“ drehte. Die öffentliche Meinung Japans geriet über diese Darstellung Leidender und Todkranker, denen die elementarste Hilfe versagt geblieben war, so sehr in Erregung, daß dem Parlament ein Gesetz zur Unterstützung der Atomopfer vorgelegt und vor einigen Monaten schließlich angenommen wurde.

Aufgerüttelt hat der Film mit dem Titel „Und doch ist es gut, daß wir davongekommen sind!“ auch die mehr als fünfhundert Aerzte von Hiroshima. Er zeigt unter anderem eine Szene, in der ein elfjähriges Mädchen auf seine durch Brandschädigung völlig verkrampfte Hand zeigt und ausruft: „Niemand wird mir je den Gebrauch dieses Gliedes wiedergeben können.“ In der Nacht, nachdem er den Film gesehen hatte, konnte Dr. Harada nicht schlafen. Er verschaffte sich die Adresse des Mädchens, schrieb ihr und bot ihr an, sie umsonst zu behandeln. Sie hatte gerade die sechste Operation hinter sich, aber sie kann, wenn die Verbände abgenommen werden, die Finger bereits wieder ein wenig bewegen.

Das japanische Chikago

Hiroshima, das heißt die Mehrheit der Bürger Hiroshimas, will heute das Leben in vollen Zügen genießen und die bösen Zeiten vergessen. Keine andere Stadt Japans ist so vergnügungssüchtig wie diese „Märtyrerstadt“. Nirgends gibt es im Verhältnis zur Bevölkerung so viele Bars (436), so viele Freudenhäuser (326 mit rund 1000 Dirnen), so viele Kinos (43). Die alljährliche Gedächtnisfeier am 6. August ist keine stille und ernste Feier zum Gedenken der Toten, sondern ein lautes Volksfest mit Feuerwerk, Wahl einer Schönheitskönigin und ausgelassenen Reisweingelagen. Um die Kontrolle dieser Amüsementsstätten kam es vor zwei Jahren sogar zu einer offenen Straßenschlacht zwischen zwei Gangstergruppen. Die Anführer dieser Banden sitzen zwar heute im Gefängnis, aber inzwischen ist ein neuer Gangsterchef zum König der Unterwelt von Hiroshima aufgestiegen, der sich schon durch „Aufrüstung“ seiner Schergen auf die bevorstehende Entlassung und dann gegen ihn gerichtete Koalition der beiden ehemaligen Rivalen vorbereitet. Zur Zeit ist im Zentrum der Stadt ein neues Baseball-Stadion im Bau. das 300 Millionen Yen kosten soll. Die Frage, welcher Unterweltring die Konzession zum Verkauf von Erfrischungen erhalten soll, beschäftigt — wenn ich meinen Kollegen von der Lokalzeitung „Chigoku Shimbun“ glauben darf — die Oeffentlichkeit dieser Stadt viel stärker als die leidigen Atomprobleme, die man endlich vergessen möchte.

Friedensuniversität

Hiroshima hat heute bereits wieder 380.000 Einwohner (gegenüber 400.000 in der Vorkriegszeit), von denen zwei Drittel Einwanderer aus anderen, überbevölkerten Regionen oder aus den ehemalig japanisch besetzten Gebieten auf dem asiatischen Festland sind. Der materielle Wiederaufbau ist imponierend genug. Tausende von Arbeitern sind in den Nippon-Stahlwerken beschäftigt, andere tausend bei der größten Firma Japans zur Erzeugung von dreirädrigen Motorlieferwagen. Es gibt hier zwei große Warenhäuser (mit kompletten Kinderspielplätzen auf dem Flachdach), Bankgebäude, und den palastartigen Komplex der Präfekturverwaltung. Für die Straßen Hiroshimas hat man allerdings zuwenig Geld. Sie sind voller Löcher und Tümpel. Die Bevölkerung, ein gutmütiger Menschenschlag, nennt diese Schlaglöcher freundlich: „Die Grübchen von Hiroshima.“

Auf der positiven Seite des Wiederaufbaues von Hiroshima muß vor allem die Neuerstehung der Universität verbucht werden, deren Rektor der ehemalige Erziehungsminister Dr. Morito ist. Er versucht, die Universität zur internationalen „Friedenshochschule“ zu machen. Seine Studenten sind die geistig aktivste Kraft im Nach-kriegs-Hiroshima. Von den Großplanungen der ersten Nachkriegsjahre, die aus Hiroshima die schönste und modernste Stadt Japans machen wollten, ist nur wenig verwirklicht worden. Zwar wurden neue Parks und breite Straßen angelegt, aber sie sind entweder noch nicht fertig oder bereits fast hoffnungslos verwahrlost. Eine der Neuerungen in der Stadtplanung legte fest, daß an allen Ufern zu beiden Seiten der fünf Flußarme Ausfallstraßen zum Meer angelegt werden sollten. Ich fragte Dr. Hachiyama, den Verfasser des berühmt gewordenen „Hiroshima-Tagebuchs“, weshalb man diese Bestimmung getroffen habe. Er antwortete ganz sachlich und ohne Spur von Sarkasmus: „Beim ersten Atombombardement von Hiroshima kamen Zehntausende um, weil sie nicht aus der brennenden Stadt hinausgelangen konnten. Wir wollen für das nächste Mal besser vorbereitet sein.“

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