6562123-1949_06_02.jpg
Digital In Arbeit

Irgendwo in Europa

Werbung
Werbung
Werbung

Irgendwo in Europa lösen sich aus den Trümmern zerstörter Dörfer zerlumpte Gestalten, elternlose, heimatlose Kinder, und ziehen ziellos, führungslos durch das Land. Auf einem einsamen Schloß finden sie einen, der sich inmitten der allgemeinen inneren und äußeren Zerstörung noch ein menschliches Herz bewahrt hat. Er gibt ihnen nicht nur Brot und Arbeit, sondern auch ein neues Lebensziel.

Ein Filmstoff, nicht Wahr? Und noch dazu höchst unglaubwürdig, didc aufgetragen — sagte man vielfach, als der Film „Irgendwo in Europa“ eine ganze Anzahl immer noch Schlafender aufscheuchte.

Die Wirklichkeit ist, zugegeben, in einigen Details nicht so poetisch. Sie berichtet kürzer, sachlicher, bestimmter: Vor den erstaunten Schweizergardisten in Rom stand kürzlich der 14jährige Deutsche Lothar Novak und erklärte kurz und bündig: „Ich möchte den Papst sprechen, ich habe Tausende von Kilometern hinter mir, habe Hunger, will in Italien bleiben und arbeiten.“ Der in Breslau wohnhafte Junge, der im Krieg seine Eltern verlor, war 1945 in ein sowjetisches Jugendlager bei Leipzig gestedet wörden. Im Sommer 1948 entkam er mit zwei Kameraden, trennte sich von diesen und trat seinen abenteuerlichen Marsch nach dem Süden an, kam über die Zonengrenzen, wurde in Österreich von den Franzosen aufgegriffen, entkam wieder und gelangte nach Italien, wo er in Florenz von einer barmherzigen Frau die Fahrkarte nach Rom bekam. Dort, vor den Toren dės Vatikans, der letzten Zuflucht in höchster Verzweiflung, endet die Geschichte.

Und es ist Zu hoffen, daß sich durch menschliches Verständnis die verwirrten Fäden lösen und die künftigen Lebensabschnitte des 14jährigen Deutschen — eines für viel irgendwo in Europa — weniger spannend, mehr menschlich und freundlicher gestalten japanischen Linien in Malaya seinen Ruf in hervorragender Weise.

Wenn er a-udi ein Flüchtling war, wie er es nennt (die Japaner waren darauf aus, ihn tat oder lebendig zu fangen), so war er doch in ehr ingriffslusciger. Er verwandte seine Zeit darauf, den Guerillakrieg bei den Chinesen und Malaien zu organisieren. Und was er auszustellen hatte und was er erreichte, legt er in dem Buch nieder, dem der Rang z.u- komrnt, eine der bedeutendsten Kriegserzählungen zu sein, die von persönlichem Unterneh- miuagsgedsT und abenteuerlichem Geschehen berichtet. Einmal wurde er von den Japanern gefangen. Er entkam. Und einmal — hören wir dies mit seinen eigenen Worten:

,Bei diesem Mahl gab es ein Fleischgericht, das da einigermaßen mysteriös erschien. Ich fand es sehr gut. Es war weniger ranzig als Affenfieisdj, aber nicht so gut wie Dschungelschwein. Nach dem Essen wurde mir gesagt, daß ich einen Japaner gegessen hatte.1

Nicht eine Seit des Buches ist ohne Schauerlichkeiten, ohne wunderliche Vorfälle und ohne Humorblitze. Und es erfüllt einen beim Lesen mit Stolz.“

Soweit der Humorblitz. Der Kinderreim lautet folgendermaßen:

„Ring-a-ring-o — geranium,

A pocket full uranium,

Hiro, shim ,

All fall down!?“

Frei übersetzt: Ringaringa Geranium — Eine Tasche voll Uranium — Hiroshima — Alle sind weg! (Uran ist das für die Atom- bombenerzeugung nötige Mineral, Hiroshima ist die japanische Stadt, über der die erste Atombombe abgeworfen wurde.) Dieser Kinder verš wurde in der konservativen englischen Zeitung „Observer“ in einem Weihnachtswettbewerb preisgekrönt und veröffentlicht. Das Blatt vertrat die Ansicht, daß er nicht frivol ist, sondern eine „heilsame Moral“ schafft. „Die Wandlung des Wortes Hiroshima in ein rituelles Geklingel erhöhte die makabre Wirkung.“ Eine englische Leserin schrieb am 16. Jänner 1949 an den „Observer“ eine andere Ansicht:

„Wie war es ausgerechnet Ihnen möglich, diesen unglaublichen Kinderreim zu veröffentlichen und mit einem Preis zu krönen? Die einzige passende Form, an Hiroshima zu erinnern, ist Scham und Sorge. Vertrottelte Witze darüber zu reißen, es wegzulachen in einem Kinderreim oder einem Spiel — und das in einem Weihnachtswettbewerb —, ist ein Verbrechen gegen den Geist des Weihniachtsf estes, ja es ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit.“

Gottlob, es gibt neben Perversen und Barbaren doch noch gesunde Menschen!

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung