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„Wenn es den Großmächten nicht bald gelingt, der Weiterverbreitung von Atomwaffen Einhalt zu gebieten, dann ist die Menschheit verloren.“ Diese Ansicht vertrat kürzlich in privatem Kreise ein Zeitgenosse mit berühmtem Namen, der zu den überzeugten Befürwortern der bisherigen NATO-Politik gehört. Eine ähnliche Ansicht äußerte vor einigen Wochen im amerikanischen Senat ein anderer Mann mit berühmtem Namen: Robert F. Kennedy. Und auch der von Präsident Johnson eingesetzte Sonderausschuß unter dem früheren Vizeverteidigungsminister Gilpatric, der die Folgen der ersten chinesischen Atombombenexplosion studieren sollte, kam zu dem Schluß: einem Vertrag, der die Weiterverbreitung von Atomwaffen verhindern soll, kommt die Priorität vor dem Aufbau einer nuklearen NATO-Macht zu.

Dieser Gilpatric-Bericht, der Präsident Johnson schon Ende Januar zugeleitet worden war, erhielt zwar den roten Stempel „Streng geheim“ aufgedrückt, aber es ist inzwischen doch bekannt geworden, was dem Präsidenten darin vorgeschlagen wird. Es ist auch bekannt geworden, warum er nicht veröffentlicht wurde: während das Verteidigungsdepartement und die Atomenergiekommission ihm zustimmen, lehnt das Staatsdepartement seinen Vorschlag ab, da man dort immer noch der längst verstorbenen MLF — der multilateralen NATO-Atomstreitmacht — nachtrauert. Das Entscheidende dabei aber ist, daß heute also auch das Verteidigungsdepartement der USA der Ansicht ist, ein Abkommen mit der Sowjetunion über die Nichtweiterverbreitung von Atomwaffen sei für die Sicherheit der Vereinigten Staaten heute wichtiger als der Aufbau einer multilateralen Atomstreitmacht. Die „New York Times“ schrieb dazu in einem Leitartikel: „Sofern der Weiterverbreitung von Atomwaffen nicht Einhalt geboten wird, wird es für keine Macht, ob groß oder klein, Sicherheit geben.“

Von diesem Gedanken ließ sich auch Robert F. Kennedy leiten, als er in seiner Jungfernrede im Senat den Präsidenten beschwor, „solange noch Zeit ist“ alles zu versuchen, um mit der Sowjetunion zu einem entsprechenden Abkommen zu gelangen. Er meinte, Indien und Israel könnten innerhalb weniger Monate Atomwaffen produzieren und etwa ein Dutzend anderer Staaten innerhalb weniger Jahre. Kennedy ging sogar so weit, an das Tabu der amerikanischen Außenpolitik zu rühren und zu erklären: „Ohne Beteiligung Chinas (an einem solchen Abkommen) wird es unendlich viel schwieriger, wenn auf lange Sicht nicht sogar unmöglich sein, eine Weiterverbreitung von Atomwaffen zu verhindern.“ Er beschwor Präsident Johnson, sich nicht durch Vietnam und Santo Domingo von dieser vordringlichen Aufgabe ablenken zu lassen. Auch könne man nicht warten, bis die europäische Frage geregelt sei, die ja übrigens seit 1914 auf eine Regelung warte. Er befürwortete weiter die Schaffung atomwaffenfreier Zonen — zwar noch nicht in Europa und im Fernen Osten, aber in Afrika und Lateinamerika.

Kennedy erhielt in der anschließenden Debatte Unterstützung von mehreren demokratischen Senatoren.

Es ist anzunehmen, daß der Gedanke eines Abkommens über die Nichtweiterverbreitung von Atomwaffen auch in Moskau zahlreiche Freunde hat. Wir erleben heute das Überraschende, daß die nationalen egoistischen Interessen der beiden Supermächte in West und Ost — die ihr Atomwaffenmonopol, auch wenn es kein absolutes mehr ist, wahren möchten — mit den Interessen der Menschheit als solcher übereinstimmen. Das bedeutet eine große Chance — die letzte Chance, könnte man fast sagen. Aber anderseits ist da der Vietnamkonflikit, der die Russen zwingt, sich Washington gegenüber härter zu gebärden als es ihnen lieb wäre, und der dem außenpolitisch unerfahrenen Präsidenten Johnson keine Zeit läßt, die Initiative in Sachen Atomabkommen zu ergreifen.

Aber das Problem eines Abkommens über die Nichtweiterverbreitung von Atomwaffen wirft außerdem noch eine grundsätzliche Frage auf, die einer Verwirklichung dieses Gedankens hindernd im Wege steht: Wie soll dieses Abkommen durchgesetzt werden, falls einige Staaten sich weigern, freiwillig auf Atomwaffen zu verzichten und ihm beizutreten? In den USA — aber gewiß auch in Moskau — denkt man dabei vor allem an China. Robert Kennedy hatte in seiner Senatsrede die Schaffung eines weltweiten Garantiesystems gegen nukleare Erpressung vorgeschlagen. Das setzt die Bildung einer internationalen Polizeitruppe voraus, die mächtig genug wäre, wirksam gegen Nationen vorzugehen, die sich auf nukleare Abenteuer einlassen möchten.

Durch diese Überlegungen geistert die immer wieder auftauchende Idee eines „Präventivangriffs“ auf China, mit dem Ziel, die chinesischen Atomzentren zu zerstören. Aber würde man auch gegen Frankreich Gewalt anwenden wollen? Oder gegen Indien, Ägypten, Israel? Gewiß mag auf lange Sicht die Idee einer internationalen Polizeitruppe, die für die Einhaltung oder Durchsetzung des Abkommens verantwortlich wäre, die einzig mögliche Lösung sein. Aber wer das unmittelbare Heil von einer solchen Polizeitruppe erwartet, der übersieht eines: daß eine solche Polizeitruppe ihre Aufgabe nur erfüllen kann, wenn die Großmächte geeint hinter ihr stehen. Aber von der Möglichkeit einer solchen Einigkeit ist man im Augenblick noch ziemlich weit entfernt.

Weiter ist es doch äußerst fraglich, ob Moskau heute oder in absehbarer Zukunft einer militärischen Intervention in China zustimmen würde, ganz abgesehen davon, daß der Konflikt zwischen Moskau und Peking — wie alle politischen Konflikte — Wandlungen unterworfen ist und die Spannung sowohl zunehmen wie abnehmen kann.

Weitsichtigere Politik wäre es jedenfalls, vor dem Liebäugeln mit Gewaltmaßnahmen Robert Kennedys Rat zu beherzigen und China von der Demütigung zu befreien, von den USA als Paria der Weltpolitik behandelt zu werden. Ob China sich an einem Abkommen über die Nichtweiterverbreitung von Atomwaffen beteiligen würde, ist eine offene Frage. Aber ein solches Abkommen besäße ohne Beteiligung Chinas einen so fragwürdigen Wert, daß zumindest alles getan werden müßte, China zum Mitmachen zu gewinnen. Der erste Sehritt dazu wäre die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen den USA und China. Vielleicht wäre das ein Preis, den China akzeptieren würde, um die Hand zur Regelung des Vietnamkonfliktes zu bieten. Aber ist der von der Hand in den Mund lebende außenpolitische Pragmatiker Johnson der Mann für eine so kühne Konzeption? Man hat Robert Kennedys Senatsrede in den USA als indirekten Angriff auf die Außenpolitik Johnsons interpretiert. Die Entscheidung darüber, ob die Gefahr einer Weiterverbreitung der Atomwaffen gebannt werden kann oder nicht, liegt heute weitgehend bei Washington.

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